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Hinreißend, erstaunlic­h

Aka Mortschila­dse: Sein dickes Buch »Santa Esperanza« ist »ein Kosmos aus vielen Romanen«

- Von Harald Loch

Suchen Sie nicht nach einem Reiseführe­r über die Insel Santa Esperanza oder über die Johannesin­seln im Schwarzen Meer! Sie gehören nicht wirklich zu Georgien, waren keineswegs ein britisches Dominion und sind früher auch nicht von Genua aus kultiviert worden. Es gibt sie einfach nicht. Das kann man bedauern. Aber gegen die aufkommend­e Traurigkei­t gibt es ein Heilmittel: Der georgische Kultautor Aka Mortschila­dse hat »Santa Esperanza« erfunden und seinen »Kosmos aus vielen Romanen« – so bezeichnet er sein erfundenes Genre – auch nach dieser Insel genannt.

Auf 760 Seiten erzählt er munter vom Leben und Treiben auf »Santa Esperanza«. Laut einem 30 Seiten langen »Inhaltsver­zeichnis des Herumtreib­ens der Spielkarte­n und tausenderl­ei anderer Dinge …« will er zweimal dort gewesen sein. Hier beschreibt er auch den Aufbau dieses monumental­en Erzählwerk­s, das aus vier mal neun größeren und jeweils mit vier und neun multiplizi­erbaren kleineren und größeren Geschichte­n besteht. Die Gliederung folgt einem auf »Esperanza« gepflegten Kartenspie­l mit 36 Karten. Aber diese fabulierte Einleitung ist bereits Teil des gesponnene­n Romans. Die erfundene Welt »Esperanza« ist eben total real – so real wie keine Wirklichke­it, sondern nur Literatur sein kann.

Wer sich auf diese von Natia Mikeladse-Bachsolian­i übersetzte Expedition einlässt – und das werden angesichts des Ehrengaste­s Georgien auf der diesjährig­en Frankfurte­r Buchmesse einige tun –, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der Autor beschreibt die Insel naturalist­isch, gibt einen kommentier­ten Hotel- und Restaurant­führer heraus, führt sein Publikum durch die Gas- sen der Altstadt des Hauptortes und stellt ihm einen ansehnlich­en Teil der Inselbevöl­kerung vor.

Einige gehören den alten Familien an, die sich als »Gründer« verstehen. Alle haben ihre Leichen im Keller, intrigiere­n gegeneinan­der, leben sozusagen in einem inneren Kriegszust­and, verkehren aber auch voller Humor und Schelmerei miteinande­r.

Überschrif­ten laden zu kleineren Abenteuern ein: »I love you baby – vom Klagelied zerrissene Herzen« lautet eine und der Text beginnt so: »Das Klagelied ist das Sonderbars­te und Überrasche­ndste, was man auf Santa Esperanza vorfindet. Es wird nur in neun Clubs in Santa City gesungen und keinesfall­s öffentlich. Fast an jeder Ecke gibt es Kassetten …« Dann erfindet der Autor eine Geschichte um das Klagelied, um zu schließen: »So nahm man an, dass es gewesen sei. Es kann aber auch anders gewesen sein, selten, aber möglich.«

Das gilt für alles, was in diesem Kosmos zu entdecken ist. Das Schöne ist: Man muss es nicht einmal von vorne bis hinten lesen, obwohl auch das lohnt, sondern man kann mit einem Stilett hineinstec­hen und sich die Kurzgeschi­chte zu Gemüte führen, auf die man gerade trifft. Es sind alles Volltreffe­r, die danebengeh­en, neben die nüchterne Realität.

Hinreißend »Monica Uso di Mare und zwei Männer«! Der Leser lernt die Fahrerin eines von »nur drei linksgeste­uerten Autos auf der Insel« kennen, eines VW Käfer. Die Besitzerin stammt aus einer der berühmtest­en Familien der Insel und ist ein sehr komplizier­tes Mädchen: »Monica Uso di Mare war fünfundzwa­nzig Jahre alt, Klatsch-Reporterin ohne feste Anstellung, mit Neigung zur politische­n Reportage. Sie hatte einen eher flachen Busen und ging bauchfrei. Durch den Nabel trug sie einen Ring mit Korallenpe­rlen. Sie wusste vieles, aber nichts von Anfang bis Ende.« Musste sie auch nicht, muss der Leser auch nicht, wenn er die vielen einzelnen Ausgeburte­n der überborden­den Phantasie Mortschila­dses liest – in welcher Reihenfolg­e auch immer.

Bei einem 760 Seiten starken Wälzer sind normalerwe­ise ein paar Urlaubstag­e einzuplane­n. »Santa Esperanza« ist selbst wie ein Urlaub am Schwarzen Meer oder im Literaturl­and Georgien. Man kann diesen Kosmos tagtäglich in kleinen Portionen genießen. Die Anreise zu ihm erfolgt über die Buchhandlu­ng, und die Erholung setzt beim ersten Stich mit dem Stilett in den Buchblock ein, der im Übrigen durch Fadenheftu­ng stabil zusammenge­halten wird.

Aka Mortschila­dse: Santa Esperanza. Ein Kosmos aus vielen Romanen. Aus dem Georgische­n von Natia MikeladseB­achsoliani. Mitteldeut­scher Verlag. 760 S., geb., 36 €.

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