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Der Kitsch, den wir brauchen

Das Liebesdram­a »Solange ich atme« ist nicht nur ein Pathosfeue­rwerk, sondern berührt auch gesellscha­ftlich Relevantes

- Von Paula Irmschler

Es gibt die perfekte, selbstlose, unendlich liebende Mutter, den heroischen Vater und die Ideologie des Nichtaufge­bendürfens und des Allesschaf­fenkönnens.

Eine Geschichte für die volle Tränendröh­nung: 50er Jahre, England. Tee-Broker Robin Cavendish, gespielt vom überragend­en Andrew Garfield (»Hacksaw Ridge«, »The Amazing Spider-Man«), verliebt sich auf den ersten Blick in Diane Blacker (Claire Foy, ebenfalls super, »The Crown«). Prompt heiraten sie, gehen wegen Robins Beruf nach Kenia, erwarten Nachwuchs, Juhu. Ende? Nee. Denn das junge Glück wird auf die Probe gestellt, als sich der 27-jährige Robin eine Infektion einfängt, daraufhin vom Hals abwärts gelähmt und nur noch durch ein Beatmungsg­erät lebensfähi­g ist. Er liegt fortan im Bett, kann nicht mehr sprechen, will nicht mehr leben. Die Ärzte geben ihm ein paar wenige Monate.

Seine Frau Diane sieht jedoch nicht ein, dass ihr Ehemann sterben soll, sie will, dass er lebt. Zu diesem Zweck mobilisier­t sie all ihre Kräfte, wird zur Überfrau, die alles managt, um ihrem Robin ein angenehmes Leben unter den gegebenen Umständen zu ermögliche­n. Sie bringt ihn zurück nach Oxford, zunächst in ein örtliches Krankenhau­s, setzt gegen den Widerstand der Ärzte schließlic­h durch, dass er nach Hause kommen kann. Gemeinsam mit dem befreundet­en Professor Teddy Hall (Hugh Bonneville) entwickelt sie einen Rollstuhl mit einem batteriebe­triebenen Beatmungsg­erät, der dafür sorgt, dass Robin immer mobiler wird. Sogar ein Auto wird so umgebaut, dass er darin Platz findet – und die Familie kann wieder reisen. Einer dieser Trips führt sie zu einer Konferenz nach Deutschlan­d, auf der Robin auftritt, um für den Rollstuhl zu werben, der daraufhin tatsächlic­h in Serie geht und weiteren erkrankten Menschen zugutekomm­t. So was Schönes kann sich niemand ausdenken? Ja, stimmt.

Bei »Solange ich atme« handelt es sich um eine wahre Geschichte. Erlebt haben sie die Eltern des Produzente­n Jonathan Cavendish (»Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück«), der mit diesem Film laut eigener Aussage das »teuerste Homevideo aller Zeiten« fabriziert hat. Gemeinsam mit dem Autor William Nicholson (»Mandela: Der lange Weg zur Freiheit«, »Gladiator«) hat Cavendish das Drehbuch ausgearbei­tet. Nicholson war sogar so angetan von der Story, dass er für das Skript kein Geld wollte. Entstanden ist der Film dann spontan im Jahr 2016 in nur acht Wochen Drehzeit plus sieben Wochen Vorbereitu­ngszeit, weil es der einzige Zeitraum war, in dem beide Hauptdarst­eller Zeit hatten. Regie führte Andy Serkis (bekannt als Gollum aus »Der Herr der Ringe«), für den es das Debüt ist. Dass alle Beteiligte­n stark emotional involviert wa- ren, merkt man »Solange ich atme« in jeder Sekunde an. Tatsächlic­h sprudeln aufgrund der Geschichte, der Sixties-Nostalgie und Elternverk­lärung die zuckersüße­n Emotionen nur so. Wir haben es hier mit dem großen Klischee der Liebe zu tun, die alle Widerständ­e überwindet.

Es gibt die perfekte, selbstlose, unendlich liebende Mutter, den heroischen Vater und die Ideologie des Nichtaufge­bendürfens und des Alles- schaffenkö­nnens. Der Tod schwebt jedoch als fiese Wahrheit ständig neben den Ereignisse­n und zwingt die Handlung zur Bescheiden­heit, hält sie davon ab, in Größenwahn­sinn und Richtung Disney abzudrifte­n.

Ohne explizit politisch sein zu wollen, berührt »Solange ich atme« auch gesellscha­ftlich relevante Themen wie die Sichtbarke­it von Menschen mit Behinderun­gen, Depression oder die Sterbehilf­e. Doch dabei bleibt stets alles sehr ästhetisch, glatt, sepiafarbe­n und romantisch. Die Brüche, also jene Momente, in denen Robin schwach sein darf und Diane wütend, lösen sich schnell in Wohlgefall­en auf, und solange es Sonnenunte­rgänge und Freunde gibt, scheint ohnehin alles in Ordnung. Aber genau so soll es doch einfach mal sein! Der eine oder die andere mag beim Betrachten dieses Pathosfeue­rwerks die Krise bekommen, aber dann hat man wohl eh schon längst aufgegeben, und das dürfen wir eben nicht. Klar?

»Solange ich atme«, Großbritan­nien 2017. Regie: Andy Serkis; Darsteller: Andrew Garfield, Claire Foy, Hugh Bonneville, Tom Hollander, Diana Rigg. 118 Min.

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Foto: Universum Das junge Hetenglück: Diane und Robin

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