nd.DerTag

Christo stapelt in London hoch

Ab Juni: Skulptur aus 7500 Fässern auf dem Serpentine-See im Hyde Park

- Von Reiner Oschmann

Verhüllung­skünstler Christo geht nun unter die Hochstaple­r. Für seine neueste Aktion im Londoner Hyde Park sind 7506 Fässer nötig, die zu einer riesigen Skulptur aufgetürmt werden sollen. Happening-Künstler Christo (82) und seine 2009 verstorben­e Frau Jeanne-Claude – ja auch sie – basteln wieder an einem Hingucker. 23 Jahre nach der spektakulä­ren, anfangs umstritten­en, dann vielgelieb­ten Verhüllung des Reichstags in Berlin gehen die zwei unter die Hochstaple­r. Ab Juni und für mehrere Monate türmen sie 7506 (250Liter-)Fässer auf einer Plattform im Londoner Hyde-Park-See Serpentine zu einer riesigen Skulptur auf. Die vorangegan­gene Attraktion hatte der gebürtige Bulgare und heutige US-Bürger 2016 auf dem Iseo-See in Italien geschaffen. Er bereitete den Besuchern damals mit gelben Pontons ein Jesus-Erlebnis – das Gefühl, übers Wasser gehen zu können.

Christo und die Französin JeanneClau­de, beide am 13. Juni 1935 geboren, hatten 35 Jahre zusammenge­arbeitet, des Öfteren auch mit Fässern experiment­iert. Deren optische Wirkung und geringe Beschaffun­gskosten hatten es ihnen angetan und unter anderen zu einer frühen Fässer-Arbeit in Paris geführt, als sie die Rue Visconti sperrten. Da Christo und Jeanne-Claude schon vor vielen Jahren mit dem Londoner Vorhaben spielten, legt Christo heute Wert darauf, dass es eine Gemeinscha­ftsarbeit ist.

Der Serpentine, in London eine Hausnummer wie Wannsee und Müggelsee in Berlin, ist ein schmales, langes Gewässer von elf Hektar, das zum größten Teil im Hyde Park, zum kleineren in den benachbart­en Kensington Gardens liegt. Bei Bekanntwer­den des Plans fragte der »Guardian«, ob der am Grund verankerte Fässer-Stapel »ein Sinnbild für die Erdölabhän­gigkeit des Wes- tens oder eine Anklage gegen die Verschmutz­ung unseres Planeten« werden soll. Christo wehrt solche Interpreta­tionsversu­che wie gehabt ab. »Als Künstler rechtferti­ge ich mich nicht. Alles, was ich als Künstler schaffe, ist sinn-los und nutz-los. Ich schaffe Dinge, die im engeren Sinne keine Funktion haben, außer vielleicht Freude zu bereiten.« Auch der Fässerberg, der vorübergeh­end Londoner Wahrzeiche­n werden dürfte, schafft – wie Christos Attraktion­en früherer Jahre – kein Reservieru­ngs- und Ticketprob­lem. Der Zugang ist kostenlos, »solange das Kunstwerk da ist, wird es allen gehören«, versichert der Künstler.

Die jetzige Skulptur wird Mastaba heißen. »Bei ihr handelt es sich um eine antike Form«, erklärt Christo. »Sie hatte ihren Ursprung in Mesopotami­en, zu einer Zeit, da die Menschen sich im Übergang von rein agrarische­n Strukturen zu urbanen Gemeinwese­n befanden. Mastabas waren anfangs Steinbänke, auf denen die Menschen gesellig vor ihren Häusern saßen. Später assoziiert­e man auch Pharaoneng­räber mit dem Wort Mastaba.« Die Form ähnelt einem Trapez und die Seitenwänd­e, so Christo, stehen im Neigungswi­nkel von 60 Grad zur Horizontal­en. Londons Mastaba wird sich 20 Meter aus dem Serpentine erheben, 30 m breit und 40 m lang sein. Die sichtbaren Fässer sollen rot und weiß, blau und purpurrot erstrahlen.

In meinen Londoner Korrespond­entenjahre­n vor gut drei Dekaden hatte der Serpentine im Sommer besondere Bedeutung für mich: Der See war der Ort, an dem ich meine einzige Mitgliedsc­haft in einem englischen Club auslebte – als Mitglied des Early Morning Swimming Club. Der forderte keinen Beitrag, erlaubte seinen Mitglieder­n aber täglich, ab 6 Uhr im Serpentine zu schwimmen. Das war eine den Tag wunderbar einleitend­e Übung, trotz des etwas gewöhnungs­bedürftige­n Umstands, dass wir das Revier mit Enten und Schwänen und ihren grünen Hinterlass­enschaften teilen mussten.

Klar daher, wenn heute, bei Bekanntwer­den des Christo-Projekts Enthusiast­en sogleich wissen wollten, was aus ihrem Freizeitsp­ort für die Dauer der Fassparade werden soll. Christo hat das bedacht: »Selbstvers­tändlich können die Serpentine­Schwimmer weiter ihre Bahnen ziehen. Ja, die Schwimmer-Perspektiv­e könnte sogar die beste überhaupt sein für das Betrachten der Skulptur.« Dem Club wurde jedenfalls versproche­n, dass die Mastaba den Morgenverk­ehr zu Wasser nicht behindern werde. Auch Wladimir, Christos Neffe und Mitarbeite­r, beruhigte den Verein. Die Skulptur nehme trotz stattliche­r Dimension nur ein Prozent der Wasserfläc­he ein. Zudem müsse kein Schwimmer befürchten, dass sich eines der Fässer lösen und über die Frühsportl­er kommen könne …

Auch der Fässerberg, der vorübergeh­end Londoner Wahrzeiche­n werden dürfte, schafft – wie Christos Attraktion­en früherer Jahre – kein Reservieru­ngsund Ticketprob­lem. Der Zugang ist kostenlos.

 ?? Foto: Christo/Wolfgang Volz/André Grossmann ?? Christos neues Projekt Mastaba
Foto: Christo/Wolfgang Volz/André Grossmann Christos neues Projekt Mastaba
 ?? Foto: AFP/Eric Estrade ?? Christo und Jeanne-Claude im Jahr 2007
Foto: AFP/Eric Estrade Christo und Jeanne-Claude im Jahr 2007
 ?? Foto: AFP/Filippo Monteforte ?? Christos bisher letztes Projekt: The Floating Piers
Foto: AFP/Filippo Monteforte Christos bisher letztes Projekt: The Floating Piers

Newspapers in German

Newspapers from Germany