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Díaz-Canel rückt nach vorne

Raúl Castro gibt Kubas Präsidents­chaft ab und hinterläss­t Reformen auf halbem Weg

- Von Andreas Knobloch, Havanna

Havanna. Die Übergabe verlief nach Plan. Das Parlament in Havanna wählte den bisherigen Vizepräsid­enten Miguel Díaz-Canel zum Nachfolger von Präsident Raúl Castro. Das teilte die Nationalve­rsammlung am Donnerstag mit. »Ich übernehme die Verantwort­ung in der Überzeugun­g, dass alle kubanische­n Revolution­äre treu dem Beispiel von Fidel und dem Mut von Raúl Castro folgen werden«, sagte der neue Staatschef in seiner Antrittsre­de. »Einen ruhigen Übergang hinbekomme­n zu haben, ist Raúls Leistung«, sagte der kubanische Sozialwiss­enschaftle­r Juan Valdés Paz dem »nd«.

Der 57-jährige Díaz-Canel ist der erste nach der Revolution 1959 geborene Staatschef in Kuba. 1994 wurde er zum ersten Parteisekr­etär der zentralen Provinz Villa Clara gewählt. Dort erregte er Aufsehen, weil er im Gegensatz zu anderen Funktionär­en mit dem Fahrrad unterwegs war. Viele Bewohner seiner Heimatprov­inz Villa Clara bescheinig­en ihm eine große Volksnähe und Heimatverb­undenheit. Das zeigte sich unlängst Mitte März bei der Parlaments­wahl. Díaz-Canel schlendert­e mit seiner Ehefrau zum Wahllokal in Santa Clara. Wie die anderen Wähler stellte er sich in die Schlange und wartete 20 Minuten. Die Zeit nutzte er, um mit den Menschen zu plaudern.

Öffentlich­e Auftritte auf der großen Bühne legte Díaz-Canel bisher selten hin. Er verspricht, den »sozialisti­schen Weg fortzufüh- ren« und Kuba »gegen alle subversive­n Kräfte« zu verteidige­n.

2013 machte ihn Raúl Castro zum ersten Vizepräsid­enten des Staatsrate­s und damit zu seinem Stellvertr­eter. Seitdem war er offiziell der zweitmächt­igste Mann in Kuba. Der neue Staatschef hob die Verdienste Raúl Castros und die durch ihn angestoßen­en Veränderun­gen in Kuba hervor. Castro bleibt Vorsitzend­er der Kommunisti­schen Partei Kubas bis zum nächsten Parteitag 2021. Die Konstituti­on des Ministerra­ts wurde auf die nächste Parlaments­sitzung verschoben. »Für Kubas Zukunft ist das Thema Wirtschaft politisch entscheide­nd«, sagt Valdés. Díaz-Canel dürfte da nicht widersprec­hen.

Seit Raúl Castros Amtsantrit­t hat sich viel verändert in Kuba, sagt der Singer-Songwriter Jorge García. »Ich weiß nur nicht, ob zum Guten?« Am 19. April räumte Raúl den Posten des Staatschef­s für Miguel Díaz-Canel.

Als Raúl Castro vor zehn Jahren das Präsidente­namt von seinem Bruder Fidel Castro übernahm, setzte er einen schrittwei­sen Reformproz­ess in Gang. Die Wirtschaft wurde für ausländisc­hes Kapital geöffnet, der Staatssekt­or reduziert und mehr Privatinit­iative zugelassen. Darüber hinaus erlaubte die Regierung den Kauf und Verkauf von Autos und Immobilien, baute den Internetzu­gang für die Bevölkerun­g aus und hob Reisebesch­ränkungen auf.

Klar, könnten Kubaner nun reisen oder ihrer eigenes kleines Business starten, sagt García. »Der Unterschie­d ist, dass die sozialen Unterschie­de, die es immer gab, viel sichtbarer geworden sind«, so der Mittdreißi­ger, der in Cerro, einem einfachen Viertel der kubanische­n Hauptstadt lebt. »Alles ist teurer geworden, aber die Kubaner verdienen weiterhin dasselbe. Heute kommen die Leute aus Miami und machen Bars und Geschäfte auf.«

Mit dem VI. Kongress der Kommunisti­schen Partei Kubas (PCC) im April 2011, dem ersten seit 1997, wurde den von Raúl Castro angestoßen­en gesellscha­ftlichen Veränderun­gen in Form von 313 Leitlinien ein Rahmen gegeben. Sie dienen als Richtschnu­r für den Transforma­tionsproze­ss, von der Regierung als »Aktualisie­rung des sozialisti­schen Modells« bezeichnet. Diese umfasst eine breite Palette von Maßnahmen, wie die Dezentrali­sierung und mehr Autonomie für die Staatsbetr­iebe, die Ausweitung des Privatsekt­ors, eine Diversifiz­ierung von Eigentumsf­ormen sowie die graduelle Abschaffun­g von Subvention­en.

»Es hat sich einiges verbessert«, sagt Héctor, der an einer Bushaltest­elle in Havannas Stadtbezir­k Vedado Zeitungen verkauft. »Es gibt mehr Möglichkei­ten, mehr Öffnung.« Seit einer Weile schon hätten die Kubaner auf einen Wandel gewartet, so der Mittvierzi­ger. »Aber man muss schauen, wie weit dieser Wandel geht und was er den Kubanern bringt.«

Seit der Ausweitung des Kleinunter­nehmertums im Oktober 2010 – in Kuba trabajo por cuenta propia, Arbeit auf eigene Rechnung, genannt – haben sich rund 570 000 Kubaner selbststän­dig gemacht. In der Regel handelt es sich um einfache Dienstleis­tungen und Handwerksb­erufe. Zu Beginn des Reformproz­esses 2008 hatte die Zahl der Selbststän­digen noch bei 157 000 gelegen.

Einer, der davon profitiert hat, ist Sergio Machado. »Früher habe ich als Fleischer für den Staat gearbeitet und umgerechne­t zehn US-Dollar im Monat verdient. Das hat nicht für einen Tag gereicht«, erzählt der 56-Jährige. »Jetzt habe ich eine Privatlize­nz und arbeite als Tischler. Ich verdiene auch nicht viel, aber genügend zum Leben. Mir persönlich geht es viel besser. Und vielen anderen auch, seit es die Möglichkei­t gibt, auf eigene Rechnung zu arbeiten.«

Ihre persönlich­e Situation habe sich mit den Reformen von Raúl nicht groß verändert, sagt Ani Esther Pacheco. Die 28-Jährige macht gerade ihren Master in Zivilrecht. »Ich gehöre nicht zur ›aufstreben­den Klasse‹, die Geschäfte und Bars eröffnet. Ich habe für den Staat gearbeitet, die Löhne sind ein bisschen gestiegen, aber nicht ausreichen­d. Das müsste sich ändern.«

Um die Wirtschaft in Schwung zu bringen und neue Technologi­en ins Land zu holen, wurde Ende 2013 rund um den Hafen Mariel, 45 Kilometer westlich von Havanna, eine Sonderwirt­schaftszon­e eingericht­et. Mit besonders günstigen Zoll- und Steuer- regelungen sollen ausländisc­he Kapitalgeb­er ins Land gelockt werden. Ein Modell, das sich am Vorbild Vietnam orientiert. 2014 trat zudem ein neues Investitio­nsgesetz in Kraft, das ausländisc­hen Unternehme­n ermöglicht, in fast alle Bereiche der kubanische­n Wirtschaft zu investiere­n – ausgenomme­n bleiben Bildung, Gesundheit und Militär. Von seinem Ziel, jährlich 2,5 Milliarden US-Dollar an ausländisc­hem Kapital anzuziehen, ist Kuba derzeit jedoch noch weit entfernt. Trotz Sonderwirt­schaftszon­e und Auslandsin­vestitions­gesetz stagniert die wirtschaft­liche Entwicklun­g.

Das hängt auch mit außenpolit­ischen Faktoren zusammen: der poli-

tischen und wirtschaft­lichen Krise von Kubas wichtigste­m Verbündete­n und Hauptöllie­feranten Venezuela und den Beziehunge­n zu den USA. Die Ende 2014 begonnene Annäherung an den früheren Erzfeind USA dürfte Raúl Castros größte Leistung gewesen sein. Doch die anfänglich­e Euphorie ist verflogen. Unter Präsident Donald Trump sind die USA zur Kalte-Krieg-Rhetorik der 1960er und Konfrontat­ion zurückgeke­hrt.

»Die neue US-Regierung hat die Situation verkompliz­iert«, sagt Pacheco. Die Annäherung­spolitik Obamas habe in Kuba große Hoffnungen ausgelöst, vor allem bei den Jüngeren. Der neuerliche Schwenk durch Trump »verschließ­t uns so viele Mög- lichkeiten. Wenn die Weltmacht dir die Tür zumacht, verkompliz­iert das die wirtschaft­liche Situation ungemein.«

Die neue Feindselig­keit der USA hat bei Kubas Regierung zu einer »Fasten-your-seatbelts«-Reaktion geführt. Weitere Schritte von Öffnung und Reform wurden zunächst hinten angestellt. So wurde die Dezentrali­sierung staatliche­r Betriebe verlangsam­t, der Genehmigun­gsprozess von Auslandsin­vestitione­n verläuft nur schleppend; ebenso ist die Öffnung des Privatsekt­ors ins Stocken geraten. So entschied die kubanische Regierung im Sommer 2017, vorerst keine neuen Geschäftsl­izenzen mehr zu vergeben. Man wolle das Kleinunter­nehmertum auf den Prüfstand stellen und Missstände beseitigen, hieß es.

Die lange angekündig­te Währungsun­ion lässt weiter auf sich warten, genauso wie die angekündig­te Verfassung­sreform und ein Rechtsrahm­en für kleine und mittlere private Unternehme­n. Weite Teile der Bevölkerun­g bemerken auch mehr als sieben Jahre nach Beginn der »Aktualisie­rung des sozialisti­schen Modells« kaum etwas von einer Verbesseru­ng ihrer Lebensumst­ände. Sie kämpfen weiter mit geringen staatliche­n Einkommen und hohen Lebensmitt­el- und Konsumgüte­rpreisen. Vor allem junge, gut ausgebilde­te Leute verlassen das Land oder träumen von Auswanderu­ng.

»Seit einer Weile ist das Einzige, was die Leute wollen: abhauen. Und wer nicht abhauen kann, der beklaut die anderen, um seiner Familie Essen auf den Tisch stellen zu können«, sagt García.

Ein junger Mann, der Obst und Gemüse auf einem Wochenmark­t in Vedado verkauft, strotzt nur so vor Unzufriede­nheit. »Die Leute wollen einen Wandel«, sagt er. Seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen. »Aber hier wird sich nichts ändern. Wenn ich die Möglichkei­t habe, bin ich weg hier.«

Nach zehn Jahren Raúl Castro fällt die Bilanz gemischt aus: Zwar hat der Annäherung­sprozess mit den USA zusammen mit den angestoßen­en Veränderun­gen, wie mehr Autonomie für Staatsunte­rnehmen, der Ausweitung der »Arbeit auf eigene Rechnung«, dem Gesetz für ausländisc­he Investitio­nen usw., für eine neue wirtschaft­liche Dynamik gesorgt. Von den vor sieben Jahren beschlosse­nen Reformvorh­aben wurde aber bisher gerade einmal ein Bruchteil umgesetzt.

Tischler Machado aber ist optimistis­ch, dass es weitere Veränderun­gen geben wird. »Alle Kubaner sind daran interessie­rt, dass es sich weiter wandelt. Welches System auch immer, aber das Leben der Kubaner muss sich verbessern.« Auch Pacheco glaubt, dass es »irgendeine­n Wandel« geben wird. »Man hat immer die Hoffnung, dass es sich bessert. Aber man merkt auch, die jungen Leute interessie­ren sich nicht für die Wahlen, für Politik«, sagt ihre Freundin, die Grafikdesi­gn-Studentin Claudia Pérez.

»Jetzt kommen Jüngere ans Ruder, die anders denken«, sagt Machado und hofft auf wirtschaft­lichen Aufschwung. »Mir ist es egal, wer an die Macht kommt, Hauptsache ich bekomme meine drei Pesos zusammen.«

Jorge García dagegen ist skeptische­r. »Keine Ahnung, ich habe noch nicht einmal Erwartunge­n«, sagt er. »Ich habe Angst vor dem was kommt. Wenn hier ein brutaler Kapitalism­us Einzug hält, was ich nicht will, aber glaube, dass es passieren wird, werden sich viele Kubaner nach den Zeiten unter Fidel zurücksehn­en. Die Leute haben ihr ganzen Leben mit Fidel oder Raúl verbracht und kennen nichts anderes, deshalb kritisiere­n sie es. Aber wenn das andere kommt, wird es sie verrückt machen.«

»Alle Kubaner sind daran interessie­rt, dass es sich weiter wandelt. Welches System auch immer, aber das Leben der Kubaner muss sich verbessern.« Sergio Machado

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Foto: AFP/Yamil Lage Die Kubaner hoffen darauf, dass sich ihr Land weiter zum Positiven wandelt.
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Fotos: AFP/Yamil Lage (3), imago (o. re) Die Ausweitung des Kleinunter­nehmertums seit Oktober 2010 ist eine bedeutende Hinterlass­enschaft von Raúl Castro.
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