Díaz-Canel rückt nach vorne
Raúl Castro gibt Kubas Präsidentschaft ab und hinterlässt Reformen auf halbem Weg
Havanna. Die Übergabe verlief nach Plan. Das Parlament in Havanna wählte den bisherigen Vizepräsidenten Miguel Díaz-Canel zum Nachfolger von Präsident Raúl Castro. Das teilte die Nationalversammlung am Donnerstag mit. »Ich übernehme die Verantwortung in der Überzeugung, dass alle kubanischen Revolutionäre treu dem Beispiel von Fidel und dem Mut von Raúl Castro folgen werden«, sagte der neue Staatschef in seiner Antrittsrede. »Einen ruhigen Übergang hinbekommen zu haben, ist Raúls Leistung«, sagte der kubanische Sozialwissenschaftler Juan Valdés Paz dem »nd«.
Der 57-jährige Díaz-Canel ist der erste nach der Revolution 1959 geborene Staatschef in Kuba. 1994 wurde er zum ersten Parteisekretär der zentralen Provinz Villa Clara gewählt. Dort erregte er Aufsehen, weil er im Gegensatz zu anderen Funktionären mit dem Fahrrad unterwegs war. Viele Bewohner seiner Heimatprovinz Villa Clara bescheinigen ihm eine große Volksnähe und Heimatverbundenheit. Das zeigte sich unlängst Mitte März bei der Parlamentswahl. Díaz-Canel schlenderte mit seiner Ehefrau zum Wahllokal in Santa Clara. Wie die anderen Wähler stellte er sich in die Schlange und wartete 20 Minuten. Die Zeit nutzte er, um mit den Menschen zu plaudern.
Öffentliche Auftritte auf der großen Bühne legte Díaz-Canel bisher selten hin. Er verspricht, den »sozialistischen Weg fortzufüh- ren« und Kuba »gegen alle subversiven Kräfte« zu verteidigen.
2013 machte ihn Raúl Castro zum ersten Vizepräsidenten des Staatsrates und damit zu seinem Stellvertreter. Seitdem war er offiziell der zweitmächtigste Mann in Kuba. Der neue Staatschef hob die Verdienste Raúl Castros und die durch ihn angestoßenen Veränderungen in Kuba hervor. Castro bleibt Vorsitzender der Kommunistischen Partei Kubas bis zum nächsten Parteitag 2021. Die Konstitution des Ministerrats wurde auf die nächste Parlamentssitzung verschoben. »Für Kubas Zukunft ist das Thema Wirtschaft politisch entscheidend«, sagt Valdés. Díaz-Canel dürfte da nicht widersprechen.
Seit Raúl Castros Amtsantritt hat sich viel verändert in Kuba, sagt der Singer-Songwriter Jorge García. »Ich weiß nur nicht, ob zum Guten?« Am 19. April räumte Raúl den Posten des Staatschefs für Miguel Díaz-Canel.
Als Raúl Castro vor zehn Jahren das Präsidentenamt von seinem Bruder Fidel Castro übernahm, setzte er einen schrittweisen Reformprozess in Gang. Die Wirtschaft wurde für ausländisches Kapital geöffnet, der Staatssektor reduziert und mehr Privatinitiative zugelassen. Darüber hinaus erlaubte die Regierung den Kauf und Verkauf von Autos und Immobilien, baute den Internetzugang für die Bevölkerung aus und hob Reisebeschränkungen auf.
Klar, könnten Kubaner nun reisen oder ihrer eigenes kleines Business starten, sagt García. »Der Unterschied ist, dass die sozialen Unterschiede, die es immer gab, viel sichtbarer geworden sind«, so der Mittdreißiger, der in Cerro, einem einfachen Viertel der kubanischen Hauptstadt lebt. »Alles ist teurer geworden, aber die Kubaner verdienen weiterhin dasselbe. Heute kommen die Leute aus Miami und machen Bars und Geschäfte auf.«
Mit dem VI. Kongress der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) im April 2011, dem ersten seit 1997, wurde den von Raúl Castro angestoßenen gesellschaftlichen Veränderungen in Form von 313 Leitlinien ein Rahmen gegeben. Sie dienen als Richtschnur für den Transformationsprozess, von der Regierung als »Aktualisierung des sozialistischen Modells« bezeichnet. Diese umfasst eine breite Palette von Maßnahmen, wie die Dezentralisierung und mehr Autonomie für die Staatsbetriebe, die Ausweitung des Privatsektors, eine Diversifizierung von Eigentumsformen sowie die graduelle Abschaffung von Subventionen.
»Es hat sich einiges verbessert«, sagt Héctor, der an einer Bushaltestelle in Havannas Stadtbezirk Vedado Zeitungen verkauft. »Es gibt mehr Möglichkeiten, mehr Öffnung.« Seit einer Weile schon hätten die Kubaner auf einen Wandel gewartet, so der Mittvierziger. »Aber man muss schauen, wie weit dieser Wandel geht und was er den Kubanern bringt.«
Seit der Ausweitung des Kleinunternehmertums im Oktober 2010 – in Kuba trabajo por cuenta propia, Arbeit auf eigene Rechnung, genannt – haben sich rund 570 000 Kubaner selbstständig gemacht. In der Regel handelt es sich um einfache Dienstleistungen und Handwerksberufe. Zu Beginn des Reformprozesses 2008 hatte die Zahl der Selbstständigen noch bei 157 000 gelegen.
Einer, der davon profitiert hat, ist Sergio Machado. »Früher habe ich als Fleischer für den Staat gearbeitet und umgerechnet zehn US-Dollar im Monat verdient. Das hat nicht für einen Tag gereicht«, erzählt der 56-Jährige. »Jetzt habe ich eine Privatlizenz und arbeite als Tischler. Ich verdiene auch nicht viel, aber genügend zum Leben. Mir persönlich geht es viel besser. Und vielen anderen auch, seit es die Möglichkeit gibt, auf eigene Rechnung zu arbeiten.«
Ihre persönliche Situation habe sich mit den Reformen von Raúl nicht groß verändert, sagt Ani Esther Pacheco. Die 28-Jährige macht gerade ihren Master in Zivilrecht. »Ich gehöre nicht zur ›aufstrebenden Klasse‹, die Geschäfte und Bars eröffnet. Ich habe für den Staat gearbeitet, die Löhne sind ein bisschen gestiegen, aber nicht ausreichend. Das müsste sich ändern.«
Um die Wirtschaft in Schwung zu bringen und neue Technologien ins Land zu holen, wurde Ende 2013 rund um den Hafen Mariel, 45 Kilometer westlich von Havanna, eine Sonderwirtschaftszone eingerichtet. Mit besonders günstigen Zoll- und Steuer- regelungen sollen ausländische Kapitalgeber ins Land gelockt werden. Ein Modell, das sich am Vorbild Vietnam orientiert. 2014 trat zudem ein neues Investitionsgesetz in Kraft, das ausländischen Unternehmen ermöglicht, in fast alle Bereiche der kubanischen Wirtschaft zu investieren – ausgenommen bleiben Bildung, Gesundheit und Militär. Von seinem Ziel, jährlich 2,5 Milliarden US-Dollar an ausländischem Kapital anzuziehen, ist Kuba derzeit jedoch noch weit entfernt. Trotz Sonderwirtschaftszone und Auslandsinvestitionsgesetz stagniert die wirtschaftliche Entwicklung.
Das hängt auch mit außenpolitischen Faktoren zusammen: der poli-
tischen und wirtschaftlichen Krise von Kubas wichtigstem Verbündeten und Hauptöllieferanten Venezuela und den Beziehungen zu den USA. Die Ende 2014 begonnene Annäherung an den früheren Erzfeind USA dürfte Raúl Castros größte Leistung gewesen sein. Doch die anfängliche Euphorie ist verflogen. Unter Präsident Donald Trump sind die USA zur Kalte-Krieg-Rhetorik der 1960er und Konfrontation zurückgekehrt.
»Die neue US-Regierung hat die Situation verkompliziert«, sagt Pacheco. Die Annäherungspolitik Obamas habe in Kuba große Hoffnungen ausgelöst, vor allem bei den Jüngeren. Der neuerliche Schwenk durch Trump »verschließt uns so viele Mög- lichkeiten. Wenn die Weltmacht dir die Tür zumacht, verkompliziert das die wirtschaftliche Situation ungemein.«
Die neue Feindseligkeit der USA hat bei Kubas Regierung zu einer »Fasten-your-seatbelts«-Reaktion geführt. Weitere Schritte von Öffnung und Reform wurden zunächst hinten angestellt. So wurde die Dezentralisierung staatlicher Betriebe verlangsamt, der Genehmigungsprozess von Auslandsinvestitionen verläuft nur schleppend; ebenso ist die Öffnung des Privatsektors ins Stocken geraten. So entschied die kubanische Regierung im Sommer 2017, vorerst keine neuen Geschäftslizenzen mehr zu vergeben. Man wolle das Kleinunternehmertum auf den Prüfstand stellen und Missstände beseitigen, hieß es.
Die lange angekündigte Währungsunion lässt weiter auf sich warten, genauso wie die angekündigte Verfassungsreform und ein Rechtsrahmen für kleine und mittlere private Unternehmen. Weite Teile der Bevölkerung bemerken auch mehr als sieben Jahre nach Beginn der »Aktualisierung des sozialistischen Modells« kaum etwas von einer Verbesserung ihrer Lebensumstände. Sie kämpfen weiter mit geringen staatlichen Einkommen und hohen Lebensmittel- und Konsumgüterpreisen. Vor allem junge, gut ausgebildete Leute verlassen das Land oder träumen von Auswanderung.
»Seit einer Weile ist das Einzige, was die Leute wollen: abhauen. Und wer nicht abhauen kann, der beklaut die anderen, um seiner Familie Essen auf den Tisch stellen zu können«, sagt García.
Ein junger Mann, der Obst und Gemüse auf einem Wochenmarkt in Vedado verkauft, strotzt nur so vor Unzufriedenheit. »Die Leute wollen einen Wandel«, sagt er. Seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen. »Aber hier wird sich nichts ändern. Wenn ich die Möglichkeit habe, bin ich weg hier.«
Nach zehn Jahren Raúl Castro fällt die Bilanz gemischt aus: Zwar hat der Annäherungsprozess mit den USA zusammen mit den angestoßenen Veränderungen, wie mehr Autonomie für Staatsunternehmen, der Ausweitung der »Arbeit auf eigene Rechnung«, dem Gesetz für ausländische Investitionen usw., für eine neue wirtschaftliche Dynamik gesorgt. Von den vor sieben Jahren beschlossenen Reformvorhaben wurde aber bisher gerade einmal ein Bruchteil umgesetzt.
Tischler Machado aber ist optimistisch, dass es weitere Veränderungen geben wird. »Alle Kubaner sind daran interessiert, dass es sich weiter wandelt. Welches System auch immer, aber das Leben der Kubaner muss sich verbessern.« Auch Pacheco glaubt, dass es »irgendeinen Wandel« geben wird. »Man hat immer die Hoffnung, dass es sich bessert. Aber man merkt auch, die jungen Leute interessieren sich nicht für die Wahlen, für Politik«, sagt ihre Freundin, die Grafikdesign-Studentin Claudia Pérez.
»Jetzt kommen Jüngere ans Ruder, die anders denken«, sagt Machado und hofft auf wirtschaftlichen Aufschwung. »Mir ist es egal, wer an die Macht kommt, Hauptsache ich bekomme meine drei Pesos zusammen.«
Jorge García dagegen ist skeptischer. »Keine Ahnung, ich habe noch nicht einmal Erwartungen«, sagt er. »Ich habe Angst vor dem was kommt. Wenn hier ein brutaler Kapitalismus Einzug hält, was ich nicht will, aber glaube, dass es passieren wird, werden sich viele Kubaner nach den Zeiten unter Fidel zurücksehnen. Die Leute haben ihr ganzen Leben mit Fidel oder Raúl verbracht und kennen nichts anderes, deshalb kritisieren sie es. Aber wenn das andere kommt, wird es sie verrückt machen.«
»Alle Kubaner sind daran interessiert, dass es sich weiter wandelt. Welches System auch immer, aber das Leben der Kubaner muss sich verbessern.« Sergio Machado