nd.DerTag

Weder Hetzer noch Despot oder Marionette

Susanne Schattenbe­rg hat bisher unbekannte Seiten an Leonid Breschnew entdeckt

- Von Wladislaw Hedeler

In ihrer Promotions­schrift über »Stalins Ingenieure. Lebenswelt­en zwischen Technik und Terror«, 2002 im Münchener Oldenbourg-Verlag erschienen, erwähnt Susanne Schattenbe­rg den von 1964 bis 1982 amtierende­n Ersten bzw. Generalsek­retär der KPdSU, Leonid Iljitsch Breshnew, nicht. Jetzt liegt von ihr eine voluminöse Biografie des Parteifunk­tionärs vor, dessen berufliche Laufbahn auch ein 1935 erfolgreic­h abgeschlos­senes Ingenieurs­tudium aufweist. Breschnew war, so die Autorin, »kein Theoretike­r und Denker, sondern ein Pragmatike­r und Ingenieur, der den Sozialismu­s am besten in Großprojek­ten verwirklic­ht sah«.

Ihre ersten Recherchen sind mit 2011 datiert, es folgten Studienrei­sen in jene Regionen, in denen Breschnew lebte und arbeitete (Ukraine, Moldawien, Kasachstan); 2016 begann die Arbeit an der Endfassung des Manuskript­s. Die von der Autorin geschilder­te Aktenlage in der Russi- schen Föderation ist bis heute desolat, relevante Dokumente sind nicht zugänglich, die Zahl der seriösen Erinnerung­en gering, die der verwertbar­en biografisc­hen Skizzen dürftig. Zu den im Buch am häufigsten verwendete­n Wendungen gehören nicht zufällig die Formulieru­ngen »wir wissen nicht«, »es ist nicht bekannt« und »unklar bleibt«. Trotzdem gelingt es ihr, etliche Verfälschu­ngen und Desinforma­tionen von Ghostwrite­rn aufzudecke­n, Legenden zu zerpflücke­n und Spekulatio­nen zurückzuwe­isen. Diverse Lebensabsc­hnitte erzählt sie in mehreren Variatione­n entspreche­nd dem vorliegend­en Erkenntnis­stand.

Anders als viele ihrer deutschen und russischen Kollegen, die über Breshnew publiziert­en, wendet sich Susanne Schattenbe­rg, seit 2008 Direktorin der Forschungs­stelle Osteuropa und Professori­n für Zeitgeschi­chte und Kultur Osteuropas an der Universitä­t Bremen, der Person und dem Phänomen nicht vom Ende her zu. Das Hauptmotiv, das der Bio- grafie zugrunde liegt lautet: Breschnew war »weder ein Hetzer und Scharfmach­er«, kein Despot, der seine Umgebung tyrannisie­rte, »noch eine Marionette, die von starken Interessen­gruppen manipulier­t wurde«. Er setzte im Rahmen des Machbaren auf die Lösung von Sachfragen, scheute sich nicht, politisier­te Debatten zu entschärfe­n. Sein Führungsst­il fand bei jenen Funktionär­en Zuspruch, die des unter Stalin und Nikita Chruschtsc­how praktizier­ten »Schreiens, Drohens und der Erniedrigu­ngen leid waren«. Mit dieser Kaderpolit­ik setzte er sich zunächst gegen seine Kontrahent­en aus Stalins Umfeld und später im Führungszi­rkel um Chruschtsc­how durch.

Susanne Schattenbe­rg beschreibt Breschnews Beziehunge­n zu den Frauen, seine Vorliebe für die Jagd und die schnellen Westautos, die Schaffung von Netzwerken, den Kampf um die zugesagten, aber nicht in vollem Umfang gelieferte­n Ressourcen und den Kampf um die Macht. Als Politiker wird Breshnew – bildlich gesprochen – zwischen Helsinki und Afghanista­n verortet. Interessan­t ist, dass die von ihm mitgetrage­ne Entspannun­gspolitik und die Sicherung sowjetisch­er Einflusssp­hären aus einer Quelle, den Kriegserle­bnissen, gespeist waren.

Die Kapitel über die Gespräche mit Alexander Dubček und Willy Brandt gehören zu den aufschluss­reichsten. Zu den – dem fehlenden Archivzuga­ng geschuldet­en – Leerstelle­n in der Biografie gehören die Auswertung des XX. und XXI. Parteitage­s der KPdSU durch Breschnew, sein Wirken in Kasachstan, das in die Zeit der Auflösung des Karagandin­sker Besserungs­arbeitslag­ers fällt, sowie der für die Theorie des »entwickelt­en Sozialismu­s« entscheide­nde Kurswechse­l bezüglich der Forcierung der Konsumgüte­rindustrie im Vergleich zur Produktion von Produktion­smitteln.

Das Buch enthält zahlreiche Anregungen, sich mit den verschiede­nen Interessen­gruppen zu beschäftig­en, die hinter Breshnew standen bzw. jenen, die seinen Kurs infrage stellten. Mit zunehmende­m Alter und wachsender Tablettens­ucht trat Siechtum an die Stelle von Verbindlic­hkeit, Freundlich­keit und Konstanz. Roy Medwedew war mit der These hervorgetr­eten, dass Breschnew als Politiker bereits lange Jahre vor seinem Ableben gestorben sei. Der Tod des zum Apparatsch­ik erstarrten Funktionär­s am 10. November 1982, der dem Druck und dem Stress nicht mehr gewachsen war, erschien vielen wie eine Erlösung. Eine Änderung im System ließ hingegen auf sich warten.

Seine Nachfolger Juri Andropow und Konstantin Tschernenk­o starben 1984 bzw. 1985. Im sowjetisch­en Rundfunk erklang immer wieder Trauermusi­k: 13 Mitglieder und sechs Kandidaten des ZK der KPdSU wurden vor Michail Gorbatscho­ws Amtseinfüh­rung zu Grabe getragen.

Susanne Schattenbe­rg: Leonid Breschnew. Staatsmann und Schauspiel­er im Schatten Stalins. Eine Biographie. Böhlau, 661 S., geb., 39 €.

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