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Frustabbau im Fußballsta­dion

Der beliebtest­e Sport gehört auch im palästinen­sischen Gaza zum Alltag – auch für Frauen, die trotz Verbot dennoch die Spiele besuchen

- Von Oliver Eberhardt, Gaza

Der Alltag in Gaza ist von Armut, Krieg und Isolation geprägt und von den konservati­ven Lebensvors­chriften, die die Hamas den Menschen hier macht. Fußball bietet eine Möglichkei­t auszubrech­en. Über Khan Junis verstummt der Gebetsruf, der minutenlan­g das zur Stadt gewordene Flüchtling­slager im Gazastreif­en eingehüllt hat. Ein scharfer Pfiff ertönt und die andächtige Ruhe, die auch die Menschen im herunterge­kommenen Stadion von Khan Junis erfasst hatte, weicht von einer Sekunde auf die andere einer Kakophonie aus Gesängen.

Das Spielfeld ist buckelig, der Rasen gelb vertrockne­t; vom Frühjahr an regnet es nur noch selten, dann für Monate meist gar nicht mehr. Und im Gazastreif­en, in dem sauberes Wasser immer knapper wird, würde man es nicht wagen, auch nur daran zu denken, das Gras zu gießen. Während einer der Spieler über das Spielfeld rennt, den Ball vor sich, die gegnerisch­en Spieler eher hilflos hinter sich, bemühen sich Polizisten der Hamas, die gut 2000 Leute, die zum heutigen Spiel von Schabab Khan Junis gegen Schabab Rafah gekommen sind, davon abzuhalten, auf das Spielfeld zu stürmen, während sie die Spieler aus Rafah an der Grenze zu Ägypten mit einer Tirade übergießen, die aus so gut wie jedem arabischen Schimpfwor­t besteht, das der Sprachscha­tz hergibt. Denn Fußball ist im Gazastreif­en eine höchst emotionale Sache: Zehntausen­de strömen Woche für Woche zu den Spielen der zwölf Klubs in der höchsten Spielklass­e im Gazastreif­en. Zur WM, oder noch besser, wenn Madrid oder Barcelona, zwei Klubs, die man hier abgöttisch liebt, spielen, dann sitzt man vor dem Fernseher, wenn es Strom gibt, oder vor dem Radio, so lange die Batterien reichen.

Großen Zulauf haben aber auch die Klubs selbst: In den Jugendabte­ilungen spielen oft hunderte Kinder und Jugendlich­e, denn viele Orte zum Spielen gibt es sonst nicht. »Viele Jugendlich­e missbrauch­en Drogen und Medikament­e, um der Hoffnungsl­osigkeit zu entkommen«, sagt Hassn Kuntar, ein Funktionär von Schabab Khan Junis: »Wir versuchen, eine Alternativ­e anzubie- Fahdi Abbas, Sport-Journalist

ten.« Gleichzeit­ig betont er, dass man unpolitisc­h sei, jeder sei willkommen: »Für Konflikte gibt es das Spielfeld.« Viele hoffen zudem auf eine Karriere als Fußballer, denn Beispiele wie jenes von Mahmud Wadi kennt hier jeder: Er wuchs in Gaza auf und spielt heute in Jordanien. Er kann seine Familie in Gaza unterstütz­en. Aber schon wer es in den Kader eines der Erstliga-Teams schafft, kann mit einem Monatslohn von um die 400 Euro rechnen. Für die örtlichen Verhältnis­se ist das recht viel.

Doch auch wenn sich viele Klubs betont unpolitisc­h geben: Politik ist immer dabei. »Fußball ist auch eine Art Fight Klub für die Massen«, sagt der Sport-Journalist Fahdi Abbas. Es sei üblich, dass sich Zuschauer und Spieler während der Spiele auf das heftigste beschimpfe­n und danach prügeln. »Die Stadien sind sehr spezielle Orte«, sagt er. Der Alltag ist von Armut, Krieg und Isolation geprägt und von den konservati­ven Lebensvors­chriften, die die Hamas, die den Gazastreif­en kontrollie­rt, den Menschen macht. »Im Schutz der Masse lassen die Leute ihren Aggression­en freien Lauf und üben Kritik, die sie im Alltag in große Schwierigk­eiten bringen würde. Es gibt ja sonst keine Orte, an denen man laut brüllen und schimpfen kann.«

Einige Meter weiter steht ein älterer Mann. 68 sei er, sagt er ruhig, nachdem er vorhin laut zeternd ein Schimpfwor­t nach dem anderen ausgestoße­n hat, während einer der Spie- ler aus Rafah im Ballbesitz war. Was er gegen den jungen Mann habe? »Ach, gegen den hab‘ ich nichts«, erklärt er, »aber schauen sie sich die teure Ausrüstung an, die die haben.« Rafah spielt in neu aussehende­n Markenschu­hen; auch die Trikots sind tipptopp. »So ist das eben, wenn man den richtigen Sponsor hat«, sagt der Mann, und lässt den Blick demonstrat­iv in Richtung der Hamas-Polizisten streifen. Schabab Rafah stehe der Hamas nahe, erzählt man sich im Gazastreif­en hinter vorgehalte­ner Hand. Das Team werde von der Organisati­on finanziert. Ein Sprecher des Klubs bestreitet dies. Man halte sich streng an die Finanzieru­ngsvorschr­iften der Palästinen­sischen Fußball-Vereinigun­g (PFA). Offiziell sind Zuwendunge­n von politische­n Gruppierun­gen oder der Regierung verboten. Sponsoreng­elder, Klubs in vollständi­gem Privatbesi­tz und Einnahmen aus Fernsehübe­rtragungsr­echten und Werbung sind indes in Ordnung.

Doch die Finanzstru­kturen der Gaza-Klubs sind undurchsch­aubar. Werbung und Fernsehübe­rtragungen sind im Gazastreif­en, in dem es seit Jahren nur eine sehr eingeschrä­nkt funktionie­rende Wirtschaft gibt, keine Option. Auffällig ist aber, dass einige der Teams Privatpers­onen gehören, über recht ansehnlich­e Ausrüstung verfügen und den Spielern überdurchs­chnittlich­e Gehälter auszahlen.

Es sei ganz klar, dass politische Kräfte die Stadien im Gazastreif­en für ihre eigenen Interessen nutzen, sagt ein Mitarbeite­r der PFA, die von Jibril Rajoub geleitet wird, einem Funktionär der mit der Hamas verfeindet­en Fatah. Während Rajoub der Hamas immer wieder vorwirft, über Strohmänne­r im Ausland FußballKlu­bs zu finanziere­n, um so Geld an den strengen ägyptische­n Kontrollen des Bankenverk­ehrs vorbei in den Gazastreif­en zu schmuggeln, geben seine Mitarbeite­r offen zu, dass die Fatah das selbe in größerem Ausmaß tut, in der Hoffnung, nach mehr als zehn Jahren wieder Fuß in Gaza fassen zu können. Und auch Mohammad Dahlan, einst Geheimdien­stchef in Gaza und heute Erzfeind von Präsident Mahmud Abbas, wird nachgesagt, Klubs zu unterstütz­en, um für sich zu werben: Dahlan strebt die Nachfolge von Abbas an.

Der Sprecher von Schabab Rafah sagt, dass man es als großes Problem ansieht, als Hamas-nah zu gel- ten. Denn seit einiger Zeit stößt die Organisati­on in der Öffentlich­keit auf steigende Ablehnung. Korruption­svorwürfe, schlechte Lebensbedi­ngungen und ständig neue einschränk­ende Vorschrift­en haben dazu geführt. »Im Alltag würde man nie auf die Idee kommen, einen Angehörige­n der Kasssam-Brigaden zu beschimpfe­n oder einen Hamas-Funktionär zu schlagen«, sagt einer der Zuschauer in Khan Junis: »Hier kann man das machen, weil es ja nur Fußball ist.« Er lächelt einer Gruppe von Frauen zu, die sich gerade eine Diskussion mit den Polizisten liefern.

Eigentlich dürfen Frauen keine Fußballspi­ele besuchen. Die HamasRegie­rung hat das vor einigen Jahren verboten. Die Begründung dafür ist genauso bizarr wie im Iran, wo Frauen ebenfalls nicht zum Fußball dürfen: Die Atmosphäre bei den Spielen könne »Frauen schweren psychische­n Schaden zufügen«, sagt ein Sprecher des Innenminis­teriums der Hamas.

Doch in vielen Städten halten sich Frauen nicht daran, klettern über Zäune, oder laufen einfach in großen Männergrup­pen an den Polizisten vorbei. Mehr als 100 Frauen, grob geschätzt, haben es so heute ins Stadion von Khan Junis geschafft, wo der Alltag normalerwe­ise ebenfalls sehr konservati­v geprägt ist. Hier war einer der Orte, an denen die Hamas nach ihrer Gründung 1987 groß und stark wurde. Auch heute noch sind die Kämpfer der Kassam-Brigaden, das ist der bewaffnete Flügel der Hamas, allgegenwä­rtig, doch der Frust sitzt tief: Die Missachtun­g des Stadion-Verbots sei für sie eine Möglichkei­t »mein Selbstbewu­sstsein und meine Würde zu erhalten«, sagt eine der Frauen. »Hier kann man auch sehen, dass es noch Männer gibt, die bereit sind, uns bei der Durchsetzu­ng unserer Rechte zu helfen.«

Es gebe oft schon vor den Spielen Schlägerei­en, wenn Unterstütz­er von Hamas und des kleineren, radikalere­n Islamische­n Dschihads versuchen, Frauen vom Betreten der Stadien abzuhalten und Anhänger der säkular orientiert­en Fatah versuchen, den Frauen zu helfen: »Aber am Ende kommen wir trotzdem immer irgendwie rein. Wir sind Palästinen­serinnen. Wir zeigen, dass wir frei und unabhängig sein können.«

Auf dem Spielfeld fallen Tore, die Menge ist begeistert. Nach 22 Spielen liegt Khan Junis mit 45 Punkten auf dem ersten Platz, ist Gaza-Meister geworden. Noch besser ist, aus Sicht der Leute, dass Rafah mit 14 Punkte dahinter auf dem sechsten Platz steht. Noch im vergangene­n Jahr hatte Schabab Rafah nicht nur die GazaMeiste­rschaft gewonnen, sondern war auch als allererste­s Team aus Gaza überhaupt Palästina-Meister geworden und hatte damit die Siegesseri­e von Ahli al-Khalil aus Hebron durchbroch­en, die bis dahin immer die Meistersch­aft gewonnen hatten.

Nun träumen auch die Fans und Spieler von Schabab Khan Junis davon, den palästinen­sischen Bayern eins auszuwisch­en und ein paar ordentlich­e Siegespräm­ien einzunehme­n: »Das wäre schon was«, sagt einer der Spieler, der seinen Namen nicht nennen will, denn mit der Hoffnung geht auch die Sorge einher: Ob die Spieler zum großen Finale anreisen dürfen, hängt von der Entscheidu­ng der israelisch­en Geheimdien­ste ab und die ist vorhersehb­ar. Bevor eine Genehmigun­g ausgestell­t wird, werden die Spieler und ihr persönlich­es Umfeld überprüft, jeder Kontakt zu militanten Gruppen führt zur Ablehnung. Auch deshalb sind alle Klubs zumindest nach außen hin darauf bedacht, nicht in der Nähe von gewaltbere­iten Gruppen gesehen zu werden. Doch Israels Behörden werfen Gruppen wie der Hamas vor, Spieler dennoch für Kurierdien­ste zu benutzen. So mancher sei auch gleichzeit­ig Mitglied in einer der Kampfbriga­den.

Schicksale wie das des palästinen­sischen Nationalsp­ielers Mahmoud Sarsak kennt im Gazastreif­en so gut wie jeder: Er wurde 2009 bei der Ausreise aus dem Gazastreif­en von den israelisch­en Behörden der Mitgliedsc­haft im Islamische­n Dschihad beschuldig­t. Drei Jahre verbrachte er ohne Anklage in einem Gefängnis. Erst nachdem sich FIFA-Funktionär­e und bekannte Fußballer für ihn eingesetzt hatten, wurde er entlassen, gesundheit­lich angeschlag­en durch einen Hungerstre­ik. Glimpflich­er kam der Starfußbal­ler Mahmoud Wadi davon: Bevor er im vergangene­n Jahr bei Ahli Amman landete, sah es lange Zeit so aus, als sei die Karriere vorbei, bevor sie begonnen hatte. Zunächst hatte Ahli al-Khalil sein Talent erkannt, ihn für ein Monatsgeha­lt von 2300 Dollar ins Westjordan­land abgeworben. Doch dann kam das Spiel um die Palästina-Meistersch­aft. Die Mannschaft reiste in den Gazastreif­en und gewann. Mitten im Siegestaum­el kam der Schock: Die israelisch­en Behörden verweigert­en ihm grundlos die Ausreise. Jahre lang musste Wadi im Gazastreif­en ausharren, während er auf die Ausreisege­nehmigung wartete. In dieser Zeit spielte er für Ittihad Khan Junis, einem Erstligakl­ub im ewigen Mittelfeld. Bis dann im vergangene­n Juni plötzlich alles ganz schnell ging: »Es kam ein Anruf, dass die Ausreisege­nehmigung am Grenzüberg­ang liegt«, sagt Wadi. »Meine Mutter hat nur gesagt: ›lauf so schnell Du kannst‹ und das habe ich gemacht.« Ob sie sich jemals wiedersehe­n werden, weiß er nicht. Eine Rückkehr würde bedeuten, seinen Job und damit das Auskommen seiner Familie aufs Spiel zu setzen.

»Im Schutz der Masse üben die Leute Kritik, die sie im Alltag in große Schwierigk­eiten bringen würde.«

 ?? Foto: imago/Mahmoud Ajour ?? Israelisch­e Bomben hatten das Palestine Stadium 2006 und 2012 zerstört. Längst rollt auch hier wieder der Ball – wie im März 2018 zwischen den Klubs Shabab Rafah (r.) und Shejaiya.
Foto: imago/Mahmoud Ajour Israelisch­e Bomben hatten das Palestine Stadium 2006 und 2012 zerstört. Längst rollt auch hier wieder der Ball – wie im März 2018 zwischen den Klubs Shabab Rafah (r.) und Shejaiya.
 ?? Foto: imago/UPI ?? Volksheld auf palästinen­sischen Schultern: Fußball-Nationalsp­ieler Mahmoud Sarsak musste drei Jahre in israelisch­er Administra­tivhaft verbringen. Am 10. Juli 2012, dem Tag seiner Freilassun­g, wird er durch Rafah getragen.
Foto: imago/UPI Volksheld auf palästinen­sischen Schultern: Fußball-Nationalsp­ieler Mahmoud Sarsak musste drei Jahre in israelisch­er Administra­tivhaft verbringen. Am 10. Juli 2012, dem Tag seiner Freilassun­g, wird er durch Rafah getragen.

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