Frustabbau im Fußballstadion
Der beliebteste Sport gehört auch im palästinensischen Gaza zum Alltag – auch für Frauen, die trotz Verbot dennoch die Spiele besuchen
Der Alltag in Gaza ist von Armut, Krieg und Isolation geprägt und von den konservativen Lebensvorschriften, die die Hamas den Menschen hier macht. Fußball bietet eine Möglichkeit auszubrechen. Über Khan Junis verstummt der Gebetsruf, der minutenlang das zur Stadt gewordene Flüchtlingslager im Gazastreifen eingehüllt hat. Ein scharfer Pfiff ertönt und die andächtige Ruhe, die auch die Menschen im heruntergekommenen Stadion von Khan Junis erfasst hatte, weicht von einer Sekunde auf die andere einer Kakophonie aus Gesängen.
Das Spielfeld ist buckelig, der Rasen gelb vertrocknet; vom Frühjahr an regnet es nur noch selten, dann für Monate meist gar nicht mehr. Und im Gazastreifen, in dem sauberes Wasser immer knapper wird, würde man es nicht wagen, auch nur daran zu denken, das Gras zu gießen. Während einer der Spieler über das Spielfeld rennt, den Ball vor sich, die gegnerischen Spieler eher hilflos hinter sich, bemühen sich Polizisten der Hamas, die gut 2000 Leute, die zum heutigen Spiel von Schabab Khan Junis gegen Schabab Rafah gekommen sind, davon abzuhalten, auf das Spielfeld zu stürmen, während sie die Spieler aus Rafah an der Grenze zu Ägypten mit einer Tirade übergießen, die aus so gut wie jedem arabischen Schimpfwort besteht, das der Sprachschatz hergibt. Denn Fußball ist im Gazastreifen eine höchst emotionale Sache: Zehntausende strömen Woche für Woche zu den Spielen der zwölf Klubs in der höchsten Spielklasse im Gazastreifen. Zur WM, oder noch besser, wenn Madrid oder Barcelona, zwei Klubs, die man hier abgöttisch liebt, spielen, dann sitzt man vor dem Fernseher, wenn es Strom gibt, oder vor dem Radio, so lange die Batterien reichen.
Großen Zulauf haben aber auch die Klubs selbst: In den Jugendabteilungen spielen oft hunderte Kinder und Jugendliche, denn viele Orte zum Spielen gibt es sonst nicht. »Viele Jugendliche missbrauchen Drogen und Medikamente, um der Hoffnungslosigkeit zu entkommen«, sagt Hassn Kuntar, ein Funktionär von Schabab Khan Junis: »Wir versuchen, eine Alternative anzubie- Fahdi Abbas, Sport-Journalist
ten.« Gleichzeitig betont er, dass man unpolitisch sei, jeder sei willkommen: »Für Konflikte gibt es das Spielfeld.« Viele hoffen zudem auf eine Karriere als Fußballer, denn Beispiele wie jenes von Mahmud Wadi kennt hier jeder: Er wuchs in Gaza auf und spielt heute in Jordanien. Er kann seine Familie in Gaza unterstützen. Aber schon wer es in den Kader eines der Erstliga-Teams schafft, kann mit einem Monatslohn von um die 400 Euro rechnen. Für die örtlichen Verhältnisse ist das recht viel.
Doch auch wenn sich viele Klubs betont unpolitisch geben: Politik ist immer dabei. »Fußball ist auch eine Art Fight Klub für die Massen«, sagt der Sport-Journalist Fahdi Abbas. Es sei üblich, dass sich Zuschauer und Spieler während der Spiele auf das heftigste beschimpfen und danach prügeln. »Die Stadien sind sehr spezielle Orte«, sagt er. Der Alltag ist von Armut, Krieg und Isolation geprägt und von den konservativen Lebensvorschriften, die die Hamas, die den Gazastreifen kontrolliert, den Menschen macht. »Im Schutz der Masse lassen die Leute ihren Aggressionen freien Lauf und üben Kritik, die sie im Alltag in große Schwierigkeiten bringen würde. Es gibt ja sonst keine Orte, an denen man laut brüllen und schimpfen kann.«
Einige Meter weiter steht ein älterer Mann. 68 sei er, sagt er ruhig, nachdem er vorhin laut zeternd ein Schimpfwort nach dem anderen ausgestoßen hat, während einer der Spie- ler aus Rafah im Ballbesitz war. Was er gegen den jungen Mann habe? »Ach, gegen den hab‘ ich nichts«, erklärt er, »aber schauen sie sich die teure Ausrüstung an, die die haben.« Rafah spielt in neu aussehenden Markenschuhen; auch die Trikots sind tipptopp. »So ist das eben, wenn man den richtigen Sponsor hat«, sagt der Mann, und lässt den Blick demonstrativ in Richtung der Hamas-Polizisten streifen. Schabab Rafah stehe der Hamas nahe, erzählt man sich im Gazastreifen hinter vorgehaltener Hand. Das Team werde von der Organisation finanziert. Ein Sprecher des Klubs bestreitet dies. Man halte sich streng an die Finanzierungsvorschriften der Palästinensischen Fußball-Vereinigung (PFA). Offiziell sind Zuwendungen von politischen Gruppierungen oder der Regierung verboten. Sponsorengelder, Klubs in vollständigem Privatbesitz und Einnahmen aus Fernsehübertragungsrechten und Werbung sind indes in Ordnung.
Doch die Finanzstrukturen der Gaza-Klubs sind undurchschaubar. Werbung und Fernsehübertragungen sind im Gazastreifen, in dem es seit Jahren nur eine sehr eingeschränkt funktionierende Wirtschaft gibt, keine Option. Auffällig ist aber, dass einige der Teams Privatpersonen gehören, über recht ansehnliche Ausrüstung verfügen und den Spielern überdurchschnittliche Gehälter auszahlen.
Es sei ganz klar, dass politische Kräfte die Stadien im Gazastreifen für ihre eigenen Interessen nutzen, sagt ein Mitarbeiter der PFA, die von Jibril Rajoub geleitet wird, einem Funktionär der mit der Hamas verfeindeten Fatah. Während Rajoub der Hamas immer wieder vorwirft, über Strohmänner im Ausland FußballKlubs zu finanzieren, um so Geld an den strengen ägyptischen Kontrollen des Bankenverkehrs vorbei in den Gazastreifen zu schmuggeln, geben seine Mitarbeiter offen zu, dass die Fatah das selbe in größerem Ausmaß tut, in der Hoffnung, nach mehr als zehn Jahren wieder Fuß in Gaza fassen zu können. Und auch Mohammad Dahlan, einst Geheimdienstchef in Gaza und heute Erzfeind von Präsident Mahmud Abbas, wird nachgesagt, Klubs zu unterstützen, um für sich zu werben: Dahlan strebt die Nachfolge von Abbas an.
Der Sprecher von Schabab Rafah sagt, dass man es als großes Problem ansieht, als Hamas-nah zu gel- ten. Denn seit einiger Zeit stößt die Organisation in der Öffentlichkeit auf steigende Ablehnung. Korruptionsvorwürfe, schlechte Lebensbedingungen und ständig neue einschränkende Vorschriften haben dazu geführt. »Im Alltag würde man nie auf die Idee kommen, einen Angehörigen der Kasssam-Brigaden zu beschimpfen oder einen Hamas-Funktionär zu schlagen«, sagt einer der Zuschauer in Khan Junis: »Hier kann man das machen, weil es ja nur Fußball ist.« Er lächelt einer Gruppe von Frauen zu, die sich gerade eine Diskussion mit den Polizisten liefern.
Eigentlich dürfen Frauen keine Fußballspiele besuchen. Die HamasRegierung hat das vor einigen Jahren verboten. Die Begründung dafür ist genauso bizarr wie im Iran, wo Frauen ebenfalls nicht zum Fußball dürfen: Die Atmosphäre bei den Spielen könne »Frauen schweren psychischen Schaden zufügen«, sagt ein Sprecher des Innenministeriums der Hamas.
Doch in vielen Städten halten sich Frauen nicht daran, klettern über Zäune, oder laufen einfach in großen Männergruppen an den Polizisten vorbei. Mehr als 100 Frauen, grob geschätzt, haben es so heute ins Stadion von Khan Junis geschafft, wo der Alltag normalerweise ebenfalls sehr konservativ geprägt ist. Hier war einer der Orte, an denen die Hamas nach ihrer Gründung 1987 groß und stark wurde. Auch heute noch sind die Kämpfer der Kassam-Brigaden, das ist der bewaffnete Flügel der Hamas, allgegenwärtig, doch der Frust sitzt tief: Die Missachtung des Stadion-Verbots sei für sie eine Möglichkeit »mein Selbstbewusstsein und meine Würde zu erhalten«, sagt eine der Frauen. »Hier kann man auch sehen, dass es noch Männer gibt, die bereit sind, uns bei der Durchsetzung unserer Rechte zu helfen.«
Es gebe oft schon vor den Spielen Schlägereien, wenn Unterstützer von Hamas und des kleineren, radikaleren Islamischen Dschihads versuchen, Frauen vom Betreten der Stadien abzuhalten und Anhänger der säkular orientierten Fatah versuchen, den Frauen zu helfen: »Aber am Ende kommen wir trotzdem immer irgendwie rein. Wir sind Palästinenserinnen. Wir zeigen, dass wir frei und unabhängig sein können.«
Auf dem Spielfeld fallen Tore, die Menge ist begeistert. Nach 22 Spielen liegt Khan Junis mit 45 Punkten auf dem ersten Platz, ist Gaza-Meister geworden. Noch besser ist, aus Sicht der Leute, dass Rafah mit 14 Punkte dahinter auf dem sechsten Platz steht. Noch im vergangenen Jahr hatte Schabab Rafah nicht nur die GazaMeisterschaft gewonnen, sondern war auch als allererstes Team aus Gaza überhaupt Palästina-Meister geworden und hatte damit die Siegesserie von Ahli al-Khalil aus Hebron durchbrochen, die bis dahin immer die Meisterschaft gewonnen hatten.
Nun träumen auch die Fans und Spieler von Schabab Khan Junis davon, den palästinensischen Bayern eins auszuwischen und ein paar ordentliche Siegesprämien einzunehmen: »Das wäre schon was«, sagt einer der Spieler, der seinen Namen nicht nennen will, denn mit der Hoffnung geht auch die Sorge einher: Ob die Spieler zum großen Finale anreisen dürfen, hängt von der Entscheidung der israelischen Geheimdienste ab und die ist vorhersehbar. Bevor eine Genehmigung ausgestellt wird, werden die Spieler und ihr persönliches Umfeld überprüft, jeder Kontakt zu militanten Gruppen führt zur Ablehnung. Auch deshalb sind alle Klubs zumindest nach außen hin darauf bedacht, nicht in der Nähe von gewaltbereiten Gruppen gesehen zu werden. Doch Israels Behörden werfen Gruppen wie der Hamas vor, Spieler dennoch für Kurierdienste zu benutzen. So mancher sei auch gleichzeitig Mitglied in einer der Kampfbrigaden.
Schicksale wie das des palästinensischen Nationalspielers Mahmoud Sarsak kennt im Gazastreifen so gut wie jeder: Er wurde 2009 bei der Ausreise aus dem Gazastreifen von den israelischen Behörden der Mitgliedschaft im Islamischen Dschihad beschuldigt. Drei Jahre verbrachte er ohne Anklage in einem Gefängnis. Erst nachdem sich FIFA-Funktionäre und bekannte Fußballer für ihn eingesetzt hatten, wurde er entlassen, gesundheitlich angeschlagen durch einen Hungerstreik. Glimpflicher kam der Starfußballer Mahmoud Wadi davon: Bevor er im vergangenen Jahr bei Ahli Amman landete, sah es lange Zeit so aus, als sei die Karriere vorbei, bevor sie begonnen hatte. Zunächst hatte Ahli al-Khalil sein Talent erkannt, ihn für ein Monatsgehalt von 2300 Dollar ins Westjordanland abgeworben. Doch dann kam das Spiel um die Palästina-Meisterschaft. Die Mannschaft reiste in den Gazastreifen und gewann. Mitten im Siegestaumel kam der Schock: Die israelischen Behörden verweigerten ihm grundlos die Ausreise. Jahre lang musste Wadi im Gazastreifen ausharren, während er auf die Ausreisegenehmigung wartete. In dieser Zeit spielte er für Ittihad Khan Junis, einem Erstligaklub im ewigen Mittelfeld. Bis dann im vergangenen Juni plötzlich alles ganz schnell ging: »Es kam ein Anruf, dass die Ausreisegenehmigung am Grenzübergang liegt«, sagt Wadi. »Meine Mutter hat nur gesagt: ›lauf so schnell Du kannst‹ und das habe ich gemacht.« Ob sie sich jemals wiedersehen werden, weiß er nicht. Eine Rückkehr würde bedeuten, seinen Job und damit das Auskommen seiner Familie aufs Spiel zu setzen.
»Im Schutz der Masse üben die Leute Kritik, die sie im Alltag in große Schwierigkeiten bringen würde.«