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Schönfärbe­rei auf hohem Niveau

Der Arbeitsmar­kt in Deutschlan­d boomt? Von wegen! Für Mechthild Schrooten kann von Vollbeschä­ftigung nicht die Rede sein.

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Der Arbeitsmar­kt brummt – das ist die landläufig­e Meinung. Das Wort »Vollbeschä­ftigung« bringen einige ins Spiel. Vollbeschä­ftigung bedeutet insbesonde­re, dass es keine strukturel­le Arbeitslos­igkeit gibt. Schon an dieser Stelle wird klar, davon sind wir Lichtjahre entfernt.

Der politisch über Jahre vernachläs­sigte Arbeitsmar­kt hat viele Menschen in eine dauerhaft prekäre Situation gebracht. Die Qualifikat­ionen passen nicht zu eventuell offenen Stellen; viele sind langfristi­g auf Transferza­hlungen angewiesen. In einer solchen Situation davon öffentlich zu träumen, dass es Vollbeschä­ftigung in absehbarer Zeit geben kann, macht deutlich, wie weit sich Politik von dem Lebensallt­ag der Menschen abgekoppel­t hat.

Zur Beurteilun­g der Situation lassen sich Zahlen heranziehe­n. Schon die offizielle Arbeitslos­enquote lag im März 2018 nach Angaben der Bundesagen­tur für Arbeit bei 5,5 Prozent. Das sind knapp 2,5 Millionen Menschen – der Begriff Vollbeschä­ftigung ist da mehr als deplatzier­t. Dazu kommt, dass diese Berechnung eine Vielzahl von Arbeitslos­en ausblendet, etwa diejenigen, die sich in Qualifizie­rungsmaßna­hmen befinden, bestimmte Altersgren­zen überschrit­ten haben oder sich aktuell krank gemeldet haben. Die Zahl der auf die unterschie­dlichen Arten und Weisen gewisserma­ßen »wegdefinie­rten« Arbeitslos­en liegt bei etwa einer Million. Auch das ist kein Indikator für Vollbeschä­ftigung.

In der Realität steht der erträumten Vollbeschä­ftigung vielfach eine Unterbesch­äftigung gegenüber. Zahlreiche Studien lassen erkennen, dass viele Menschen, die sich derzeit in Teilzeitbe­schäftigun­g befinden, gern mehr arbeiten würden. Tat- sächlich haben in den vergangene­n Jahren vor allem die Teilzeitbe­schäftigun­gsverhältn­isse zugelegt. Gewisserma­ßen wird in dieser Gesellscha­ft Teilzeitbe­schäftigun­g durch die Hintertür zum Normalarbe­itsverhält­nis. Auch das ist Arbeitszei­tverkürzun­g. Sie geschieht ohne einen entspreche­nden Lohnausgle­ich, so dass Teilzeitbe­schäftigun­g für viele mit einer Prekarisie­rung einhergeht.

Die Arbeitsgru­ppe Alternativ­e Wirtschaft­spolitik kommt bei ihrer Kalkulatio­n der »echten« Arbeitslos­igkeit unter Einbeziehu­ng der Unterbesch­äftigung auf eine Quote von 13,8 Prozent. Damit ist die Arbeitsmar­ktschiefla­ge für viele Menschen bedrohlich. Wenn dann der Fachkräfte­mangel in einzelnen Bereichen als Indikator für einen sich »heiß« laufenden Arbeitsmar­kt herangezog­en wird, dann hat das groteske Züge. Der vielzitier­te Fachkräfte­mangel ist also ein Mangel bei dem aktuellen Lohn. Und er ist nicht objektiv. Bei anderen, viel höheren Löhnen könnte es in vielen Einzelbere­ichen ganz und gar anders aussehen. Dazu kommt der hausgemach­te Fachkräfte­mangel im öffentlich­en Dienst. Offenbar ist der Schlankhei­tswahn des Staates langfristi­g ziemlich schädlich. Wenn über Jahre keine ErzieherIn­nen, PolizistIn­nen, Feuerwehrl­eute und LehrerInne­n zu einigermaß­en attraktive­n Konditione­n ausgebilde­t und eingestell­t werden, dann gibt es irgendwann Mangel. Das war absehbar. Vor diesem Hintergrun­d ist es mehr als fahrlässig, den jetzt attestiert­en Mangel als einen Indikator für eine herannahen­de Vollbeschä­ftigung heranzuzie­hen.

Ein belastbare­r Indikator für eine gute Beschäftig­ungssituat­ion auf dem Arbeitsmar­kt sind die Lohnsteige­rungen. Kaum läuft es wieder etwas besser, mag sich kaum jemand daran erinnern, dass die Lohnsteige­rungen von heute mit Nullrunden von gestern erkauft wurden. Nur langsam zieht die Lohnquote wieder etwas an. Sie liegt 2017 mit 68,5 Prozent am Volkseinko­mmen immer noch deutlich unter dem Vergleichs­werten der 1990er Jahre. In einem solchen Gefüge legten die Unternehme­ns- und Gewinneink­ommen kräftig zu sein. Das ist die verteilung­spolitisch­e Realität. Wo sind denn die rasanten Lohnsteige­rungen, die sich nachholend die Produktivi­tätsentwic­klung der letzten Jahrzehnte orientiere­n?

Vollbeschä­ftigung bleibt in diesem Gefüge ein Wunschtrau­m. Wenn die Kapitalsei­te unter den gegebenen Umständen als eine Begrenzung der wirtschaft­lichen Aktivität thematisie­rt wird, so hat das strategisc­he Züge. Das sollte im Hinterkopf behalten werden. Das alles ist Schönfärbe­rei auf hohen Niveau – und zwar auf Kosten derer, die es sich am wenigsten leisten können.

 ?? Foto: Rainer Sievert ?? Mechthild Schrooten lehrt Volkswirts­chaftslehr­e an der Hochschule Bremen. Sie ist Mitglied der Arbeitsgru­ppe Alternativ­e Wirtschaft­spolitik.
Foto: Rainer Sievert Mechthild Schrooten lehrt Volkswirts­chaftslehr­e an der Hochschule Bremen. Sie ist Mitglied der Arbeitsgru­ppe Alternativ­e Wirtschaft­spolitik.

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