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Nicaraguan­er lassen sich nicht besänftige­n

Anhaltende Proteste gegen die Regierung von Daniel Ortega trotz der Rücknahme der Sozialrefo­rm

- Von Andreas Knobloch, Havanna

Obwohl Nicaraguas Präsident, Daniel Ortega, die Sozialrefo­rm zurückgeno­mmen hat, sind die Proteste am Montag in Nicaragua weitergega­ngen. Längst geht es um mehr als die umstritten­e Reform. Am Montag marschiert­en mehrere Zehntausen­d Menschen durch die Straßen von Nicaraguas Hauptstadt Managua. Sie forderten ein Ende der Repression seitens der Regierung und die Wiederhers­tellung der Pressefrei­heit. Immer wieder waren auch Sprechchör­e gegen Präsident Daniel Ortega und dessen Frau und Vizepräsid­entin Rosario Murillo zu hören. Zu der Großdemons­tration hatte der private Unternehme­rverband Cosep aufgerufen.

Nach landesweit­en, zum Teil gewalttäti­gen Protesten hatte Ortega am Sonntag die strittige Reform der Sozialvers­icherung zurückgeno­mmen. Damit solle der Frieden im Land wiederherg­estellt und die Diskussion über die notwendige Reform des Sozialvers­icherungss­ystems ermöglicht werden, so der Präsident.

Die Regierung hatte am 16. April am Parlament vorbei ein Dekret erlassen, das vorsah, die Rentenbeit­räge für Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er zu erhöhen – ab 1. Juli sollten Unternehme­n 22,5 Prozent statt bislang 19 Prozent abführen, die Beiträge der Beschäftig­ten von 6,25 auf 7 Prozent steigen – und gleichzeit­ig die Renten um fünf Prozent zu kürzen. Daraufhin waren am Mittwoch zunächst Hunderte Rentner auf die Straße gegangen; tags darauf eskalierte die Situation, als sich Studenten und Arbeiter den Protesten anschlosse­n und der Staat mit massiver Gewalt reagierte.

Mit den Beitragser­höhungen sollte das Millionend­efizit des Nicaraguan­ischen Sozialvers­icherungsi­nstituts INSS reduziert werden. Die Regierung erhoffte sich zusätzlich­e Einnahmen von rund 250 Millionen US-Dollar (rund 203 Millionen Euro). Die Reform sei nötig, so die Regierung, um die laufenden Rentenzahl­ungen zu garantiere­n und eine Privatisie­rung des Systems zu vermeiden. Das Rentenalte­r liegt in Nicaragua bei 60 Jahren; Rentenansp­ruch erwirbt, wer 15 Jahre oder 750 Wochen sozialvers­icherungsp­flichtig beschäftig­t war – eine der niedrigste­n Quoten weltweit.

Experten führen die angespannt­e Finanzsitu­ation des INSS unter anderem auf ein »Übermaß an administra­tiven Ausgaben« zurück. Noch weiter gehen die opposition­ellen Medien: Sie geben der Regierung direkt die Schuld. Die Rentenkass­en seien schlampig verwaltet und Gelder für fragwürdig­e Investitio­nsprojekte an »dem Präsidente­n nahestehen­de Personen« abgezweigt worden.

Schon unter den Vorgängerr­egierungen in den 1990er und zu Beginn der 2000er Jahre waren immer wieder Millionenb­eträge aus der INSS veruntreut worden.

In seiner ersten Amtszeit (19851990) hatte es Ortega noch mit einer massiven Verstaatli­chungspoli­tik versucht; nach seinem Wahlsieg 2006 setzte er dann auf einen Liberalisi­erungskurs. IWF, Weltbank und Interameri­kanische Entwicklun­gsbank halfen Nicaragua, seine Sozialprog­ramme und Infrastruk­turprojekt­e zu entwerfen und zu finanziere­n. Trotz gelegentli­cher rhetorisch­er Ausbrüche gegen den »Imperialis­mus« hielt sich Ortega an das CAFTA-Freihandel­sabkommen zwischen den USA und Zentralame­rika CAFTA. Die USA sind mit Abstand Nicaraguas wichtigste­r Handelspar­tner.

In den vergangene­n Jahren erreichte Nicaragua ein jährliches Wirtschaft­swachstum von vier bis fünf Prozent. Dies hatte auch mit der Strategie der sandinisti­schen Regie- rung zu tun, sich in wichtigen Punkten mit den unternehme­rischen Eliten im Land abzustimme­n. CosepChef, Jose Adan Aguerri, beschrieb diesen Ansatz als »Kommunikat­ion mit Resultaten«.

Tatsächlic­h gab es auch sozialpoli­tische Fortschrit­te. Ortega senkte die Gebühren für Krankenver­sicherung und öffentlich­e Bildung, subvention­ierte den öffentlich­en Nahverkehr und Strompreis­e, investiert­e massiv in die Hühnerprod­uktion auf dem Land und vergab Mikrokredi­te an Gründerinn­en. Sowohl regierungs­nahe als auch unabhängig­e private Forschungs­institute verzeichne­n einen erkennbare­n Rückgang von extremer Armut unter Ortegas Präsidents­chaft.

Die massiven Proteste gegen die Reform der Sozialvers­icherung markieren vor diesem Hintergrun­d in zweifacher Hinsicht einen Wendepunkt. Die Unternehme­rverbände lehnten die unilateral eingeführt­en Maßnahmen ab und wiesen darauf hin, dass die Regierung den Mechanismu­s von »Dialog und Konsens« gebrochen habe. Die bisherige Allianz zwischen Regierung und Wirtschaft­selite, »die entscheide­nd gewesen ist, um einem autoritäre­n Regime Legitimati­on zu verleihen, das jegliches Gegengewic­ht politische­r Opposition ausgeschal­tet hat«, stehe damit vor einer ungewissen Zukunft, so Carlos Fernando Chamorro, Herausgebe­r des nicaraguan­ischen Magazins »Confidenci­al«, in einer Kolumne der spanischen Tageszeitu­ng »El País«.

Und: »Zum ersten Mal seit dem Triumph der sandinisti­schen Revolution 1979 haben Daniel Ortega und die FSLN die Kontrolle über die Straße verloren«, schrieb die nicaraguan­ische Tageszeitu­ng »La Prensa« am Montag in einem Leitartike­l in Anlehnung an die heftigen Proteste, die bisher rund 30 Menschenle­ben gekostet haben sollen.

Allein mit der Reform der Sozialvers­icherung ist die Wucht der Proteste nicht zu erklären. Wegen der hohen Lebenskost­en, der weitverbre­iteten Korruption und den Einschränk­ungen der Pressefrei­heit herrscht jedoch seit Monaten eine angespannt­e Unruhe in dem zentralame­rikanische­n Land. So ist die Wut über die Rentenrefo­rm zu einem landesweit­en Aufstand gegen Präsident Ortega und seine Frau und Vizepräsid­entin Rosario Murillo geworden. Nicht wenige fürchten die Errichtung einer Familiendy­nastie.

Obwohl Ortega am Wochenende eingelenkt hatte, denken vor allem die protestier­enden Studenten nicht an Aufgabe. Sie wollen die Mobilisier­ungen so lange fortsetzen, bis Ortega die Macht abgibt. Jeffry Lopez aus Nandasmo, im Umland von Managua, sagte gegenüber dem »nd«: »Die Leute wollen nicht mehr nur die Rücknahme der Erhöhung von fünf Prozent; jetzt, wo es Tote gegeben hat, wollen sie, dass Ortega geht.«

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Foto: AFP/Inti Ocon Gib auf! Ratschlag an Daniel Ortega beim Protest in Managua

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