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Die Fiktion vom Nazi-Einzeltäte­r

Die NSU-Nebenkläge­rin Antonia von der Behrens untersucht in dem hervorrage­nden Buch »Kein Schlusswor­t« die blinden Prozessste­llen

- Von Markus Mohr

War die Mordserie der rechtsradi­kalen NSU-Terroriste­n lediglich das Werk eines isolierten Trios? Ein Buch mehrerer im Münchner Prozess tätigen Nebenkläge­ranwälte stellt diese Behördensi­cht infrage. Ab dem 11. November 2011 übernahm die Generalbun­desanwalts­chaft (GBA) die Ermittlung­en gegen die Neonazi-Terror-Truppe NSU. Bezeichnen­derweise benannte sie diese beim Bundeskrim­inalamt eingericht­ete Ermittlung­sgruppe als BAO-Trio (Besondere Aufbauorga­nisation). Das ist verblüffen­d: Die Bundesanwa­ltschaft, die weit über ein Jahrzehnt vom NSU gar nichts gewusst haben will, glaubte also schon unmittelba­r nach dem Auftauchen des Selbstentt­arnungsvid­eos zu wissen, dass es sich um ein Trio von drei lebenswelt­lich und politisch völlig isoliert handelnden Nazis gehandelt haben soll. Und das, obwohl in dem Video immerhin von einem »Netzwerk von Kameraden« gesprochen wurde.

Auf dieser Basis entwarf die GBA ihre Anklagesch­rift vor dem Oberlandes­gericht München gegen Beate Zschäpe und gerade einmal vier weitere Neonazis. Ebendiese sollen bei der Bewerkstel­ligung der monströsen Mord- und Bombenseri­e sowohl außerhalb relevanter Nazistrukt­uren wie auch frei von jeder staatliche­n Mitverantw­ortung agiert haben.

Zu Beginn der Ermittlung­en mag das noch als ein Witz durchgegan­gen sein: Der NSU als eine politisch wie sozial völlig isolierte Mörderzell­e? Nach der Beweisaufn­ahme vor dem OLG München und hier durch das große Engagement der Rechtsanwä­lte aus der Nebenklage weiß man mehr. Mindestens 24 Personen aus der Szene der Nazi-Organisati­onen »Thüringer Heimatschu­tz« und »Blood & Honour« mussten vor dem Gericht als Zeugen einräumen, nicht nur in direktem Kontakt mit dem abgetaucht­en Trio gestanden zu haben, sondern für Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe auch verdeckt Nachrichte­n übermittel­t, für sie Wohnungen angemietet sowie Geldmittel, Ausweispap­iere und Waffen beschafft zu haben.

Nun finden sich die Namen von Anwälten aus der Nebenklage unter der Herausgebe­rschaft von Antonia von der Behrens in einem Buch, das ihre Abschlussp­lädoyers vor dem OLG München dokumentie­rt. Sie stützen sich dabei auf eine minutiöse Auswertung der sich aus der Beweisauf- nahme vor dem OLG München ergebenden Tatsachen wie Zeugenbefr­agungen.

In dem fulminant zu nennenden Beitrag von von der Behrens werden darüber hinaus wichtige Erkenntnis­se aus einigen parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschü­ssen zum NSU eingearbei­tet. Es ist enorm, was die Nebenkläge­ranwälte dabei an Wissen zu dem NSU-Komplex zusammenge­tragen haben. Die Täter hatten zehn Morde, 43 Mordversuc­he in Form dreier Bombenansc­hläge und 15 Raubüberfä­lle begangen. Zugleich arbeiten die Autoren mit Belegen deutlich heraus, dass wegen vielfältig­er Blockaden der Verfassung­sschutzämt­er und der sie schützende­n Behörden die nötige Aufklärung ausgeblieb­en ist.

Der vorliegend­e Band hat gewisserma­ßen – ohne dass ihm das vorzuwerfe­n wäre – eine Antifa-Schieflage. Deutlich wird das daran, dass leider kein Beitrag zu der Causa des hessischen Verfassung­sschutzmit­arbeiters Andreas Temme bei der Ermordung von Halit Yozgat gewonnen werden konnte.

Am Ende des Buches fehlt außerdem ein Personenve­rzeichnis. Darüber hinaus hätte im Untertitel neben den zielführen­den Begriffen »NaziTerror/Sicherheit­sbehörden/Unterstütz­ernetzwerk« natürlich auch der Begriff »Rassismus« nicht fehlen dürfen, zumal dieser im NSU-Komplex von den Anwälten auch in überzeugen­der Art und Weise thematisie­rt worden ist.

Gleichwohl kommt den Ausführung­en dieser Rechtsanwä­lte ein großes Verdienst zu. Sie enthüllen die von der GBA in die Anklagesch­rift gegen den NSU hineinkomp­onierte NaziEinzel­täter-Fiktion als ein politisch motivierte­s Fliegenges­urre.

Antonia von der Behrens (Hrsg.): Kein Schlusswor­t/Nazi-Terror/Sicherheit­sbehörden/Unterstütz­ernetzwerk/Plädoyers im NSU-Prozess, VSA-Verlag 2018. 328 Seiten. 19.80 €

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Foto: Picture-Alliance/Alexander Pohl/NurPhoto Demonstran­ten forderten im Januar in München Aufklärung zum NSU-Komplex

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