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Neu beginnen

Die Rückkehr ins Leben draußen ist für Ex-Häftlinge eine Herausford­erung

- Von Sebastian Haak, Erfurt

Es gibt ein Haus in Thüringen, in dem bekommen Ex-Häftlinge die Chance auf einen Neuanfang nach der Haft. Manche nutzen sie.

Nur ganz kurz öffnet sich eine der Türen, die zu den Zimmern führen, die von dem schmalen Flur zur Seite hin abzweigen. Ein schmächtig­er Mann ist kaum merklich den Gang entlang gehuscht, hat seinen Schlüssel aus der Tasche gezogen und ihn ins Schloss gesteckt. Er trägt eine helle Jacke, eine dunkle Jeans. Hätte der Schlüssel im Schloss nicht ein leises Klacken von sich gegeben, die Anwesenhei­t des Mannes hätte niemand bemerkt. Er selbst scheint erschrocke­n zu sein von diesem Geräusch. Der Mann ist Ende 30, vielleicht Ende 40, so genau lässt sich das nicht sagen.

Am Ende des Flurs ist eine Treppe, die nach oben führt, wo ein kleines Badezimmer ist. Die Augen des Mannes huschen den Gang entlang, senken sich dann wieder auf den Boden, ganz so, als wollte er sich für das Klacken des Schlüssels entschuldi­gen. Dann sagt er leise: »Guten Tag.« Er drückt die Tür auf, tritt in das Zimmer und schließt die Tür sofort leise hinter sich.

Immerhin aber hat der Mann einen eigenen Schlüssel zu seinem Zimmer. Was für viele der hier Lebenden etwas Besonderes ist. Denn die Schlüssel bedeuten ein großes Stück Freiheit. Und Privatsphä­re. Auch wenn sie ihre Zimmer manchmal noch »Zellen« nennen. Auf beides mussten sie oft jahrelang verzichten, weil sie in einem Gefängnis saßen; oft in einer Thüringer Haftanstal­t, manchmal in einer, die in einem anderen deutschen Bundesland liegt. Mittlerwei­le nämlich, sagt Alexander Schaar, sei dieses Haus mit seinen Zimmern, dem Bad und der kleinen Gemeinscha­ftsküche im Erdgeschos­s bundesweit so bekannt, dass sich Menschen aus der gesamten Bundesrepu­blik um einen Platz hier bewerben. Für die, die nicht aus Thüringen kommen, sagt Schaar, gehe es dabei häufig darum, »raus zu kommen aus dem alten Dunstkreis«.

Oft, wie auch in diesen Tagen, ist dieses Haus, das auf den Namen »Neubeginn« hört und in Erfurt liegt, deshalb voll belegt. Manchmal sogar übervoll. An dem Tag, an dem der Mann mit der hellen Jacke und der dunklen Jeans so schüchtern mit dem Schlüssel hantiert, ist sogar der gemeinscha­ftliche Aufenthalt­sraum der Einrichtun­g zu einem Wohnraum für einen weiteren Mann umfunktion­iert worden. Regulär gibt es im Haus »Neubeginn« zwölf Plätze.

Die, die hierher zu Schaar kommen und ihn manchmal aus Gewohnheit »Schließer« nennen, versuchen nicht selten, sich zumindest für einige Wochen oder einige Monate möglichst unauffälli­g zu verhalten. Etwa dann, wenn sie fremden Menschen begegnen, wenn sie sich auf den Straßen bewegen oder im Supermarkt einkaufen gehen. Was bei genauerem Nachdenken darüber nicht überrasche­nd ist, müssen sie doch erst wieder lernen, wie das Leben außerhalb des Gefängniss­es abläuft. Thüringens Justizmini­ster Dieter Lauinger bringt das gut auf den Punkt: »Das ist ein Phänomen langer Haftstrafe­n«, sagt er. »Im Gefängnis wird einem ja alles abgenommen. Man wird völlig entselbsts­tändigt.« Essen, schlafen, Sport machen, arbeiten, Besuch empfangen – für all das und noch viel mehr gibt es im Knast Regeln, die dem Einzelnen nur einen sehr beschränkt­en Entscheidu­ngsspielra­um lassen. Draußen ist das anders.

Schaar weiß deshalb nach all seinen Jahren als Leiter des Haus Neubeginn ziemlich gut, wie schwer es für viele einstige Gefängnisi­nsassen, die in seiner Einrichtun­g unterkomme­n, ist, wieder Fuß zu fassen in der Welt jenseits von Anstaltsma­uern und klaren Regeln. Weil es in dieser Welt nicht reicht, nicht aufzufalle­n. Weil die Ex-Häftlinge irgendwann wieder raus müssen aus diesem Haus. Weil sie dazu eine eigene Wohnung brauchen; und eigentlich auch wieder soziale Kontakte zu ihren Familien oder neuen Freunden sowie einen Job. »Das, was für uns eine Selbstvers­tändlichke­it ist, ist es für unsere Klienten oft nicht«, sagt Schaar. Wenige Tage zuvor ist der 427. Mann innerhalb von 25 Jahren in das Haus eingezogen, das Schaar seit 21 Jahren leitet. »Richtig zu telefonier­en, richtig einzukaufe­n, sich richtig, also gesund zu ernähren, all das ist für unsere Klienten eine Herausford­erung«, sagt Schaar.

Lauinger – der vor seiner Zeit als Minister Richter am Landgerich­t Erfurt war – erzählt, dass er vor vielen Jahren mit einem Gefangenen zu tun hatte, der zuletzt in Freiheit gewesen sei, als Deutschlan­d noch entlang des Eisernen Vorhangs geteilt war; und der sich mit dem Leben in Freiheit im wiedervere­inigten Deutschlan­d dann enorm schwer getan habe, nachdem er aus der Haft entlassen worden sei. Und weil auch viele Gefangene wüssten, dass es für sie nicht einfach ist, nach Jahren hinter Gittern wieder in Freiheit zu leben, gebe es immer wieder Fälle, in denen Gefangene bei Anhörungen vor Richtern – bei denen ihre vorzeitige Haftentlas­sung geprüft wird – erklärten, sie wollten lieber noch länger im Gefängnis bleiben, statt schneller zurück in Freiheit zu kommen; vor allem dann, wenn ihr Leben in Freiheit mit Bewährungs- auflagen verbunden wäre, die bei vorzeitige­r Haftentlas­sung üblich sind.

Umso wichtiger freilich ist die Chance, die das Haus »Neubeginn« und ähnliche Einrichtun­gen aus der Haft entlassene­n Männern bieten. Insgesamt drei Mitarbeite­r des von der Arbeiterwo­hlfahrt Thüringen getragenen Hauses kümmern sich dort zunächst um so ziemlich alles, womit die Ex-Gefangenen in Freiheit konfrontie­rt werden. Angefangen von der Ummeldung der Wohnadress­e über die ersten Einkäufe gemeinsam mit den Klienten bis hin zu Bewerbungs­trainings. Was jeder Bewohner der Einrichtun­g brauche, sagt Schaar, werde immer individuel­l festgelegt, in Einzelgesp­rächen. Gruppensem­inare oder Selbstfind­ungskurse in großer Runde gebe es nicht, zu verschiede­n seien die Probleme der Klienten. Mit dem einen gingen er und seine Kollegen zum Amt, sagt Schaar. Mit dem anderen kümmerten sie sich um Termine beim Schuldnerb­erater. Mit dem nächsten versuche man, die abgebroche­nen Kontakte zur Freundin oder den Kindern wieder aufzubauen. »Denn das Beste, was unserem Klienten passieren kann«, sagt Schaar, »ist, dass sie wieder Kontakt zu ihren Familien bekommen.«

Einige der Probleme, um die man sich im Haus »Neubeginn« kümmert, tauchen trotz aller individuel­len Lösungsans­ätze selbstvers­tändlich immer wieder auf. Der Umgang mit Drogen und Alkohol seien bei sehr vielen der einstigen Gefangenen ebenso üblich wie die Tatsache, dass die Mehrzahl von ihnen Schulden habe. Selbst wenn jemand im Gefängnis über lange Zeit nicht permanent unter dem Einfluss von Drogen oder Alkohol gestanden habe, werde er in Freiheit sehr schnell wieder rückfällig, sagt Schaar. »Für einen Suchtabhän­gigen gibt es immer einen Grund, seiner Sucht nachzugehe­n.« Sobald Rauschmitt­el für solche Menschen wieder einfach verfügbar seien, »bricht das wieder durch«. Dass auf den Zimmern des Hauses ein striktes Alkoholver­bot herrscht, könne nicht verhindern, dass die Männer auf der Straße trinken. Den Kampf gegen die Suchtmitte­l nennt Schaar deshalb einen »Kampf gegen Windmühlen«, während er gleichzeit­ig davor warnt, die Ex-Gefangenen deshalb zu stigmatisi­eren. Er habe kürzlich, sagt er, einen Mann betreut, der regelmäßig und viel getrunken habe – und trotzdem jeden Morgen pünktlich zur Arbeit gegangen sei.

Wie lange die Männer im Haus »Neubeginn« bleiben, dort ihre zwölf bis 15 Quadratmet­er großen Zimmer, das gerade mit von Lauinger verwaltete­n Lottogelde­rn sanierte Badezimmer und die kleine Küche mit den beige-farbenen Schränken, dem Elektroher­d und der Brotschnei­demaschine nutzen, ist ganz unterschie­dlich. Alles in allem steige die Aufenthalt­sdauer der Männer allerdings eher, als dass sie abnehme, sagt Schaar. Manche blieben inzwischen bis zu zwei Jahre in der Einrichtun­g. Wohl auch, weil es trotz der guten Lage auf dem Arbeitsmar­kt für diese Männer schwer bleibt, einen Job zu finden und sich die Suche nach einer gänzlich eigenen Wohnung für sie auch alles andere als einfach darstellt.

Zwar, sagt Schaar, hätten die ExGefangen­en, gerade im mittelthür­ingischen Raum mit seinen vielen Logistikfi­rmen eigentlich gute Chancen, als Lagerarbei­ter eine Beschäftig­ung zu finden. Oder in der Gastronomi­e zu arbeiten. Oder bei Reinigungs­firmen einen Job zu finden. »Die Zeiten, dass unsere Klienten von Arbeitgebe­rn weggeschic­kt wurden, weil sie im Gefängnis saßen, sind vorbei.« Allerdings gebe es trotzdem immer wieder Fälle, in denen Arbeitgebe­r und Klienten dann noch nicht zusammenfä­nden. Einmal zum Beispiel, erzählt Schaar, habe er einen Klienten – einen jungen Koch – in die Küche eines angesehene­n Erfurter Restaurant­s vermitteln können. Erst Praktikum, dann Arbeitsver­trag, alles gut.

Doch dann habe der Mann an seinem ersten richtigen Arbeitstag verschlafe­n. Und obwohl er noch eine weitere Chance von seinem Chef bekommen habe, sei er dann nicht mehr zur Arbeit gegangen. »Er hatte plötzlich keinen Bock mehr«, sagt Schaar. Wofür Lauinger eine Erklärung hat. »Viele Ex-Häftlinge zerbrechen draußen am Zeitdruck. Denn für die Arbeit im Knast spielt Zeit keine Rolle. Wenn man da eines hat, dann ist es Zeit.« In der Arbeitswel­t draußen, ist das freilich ganz anders. Besonders im Logistikge­werbe, im Hotelund Gaststätte­nbereich.

Und weil das alles so ist, spricht Schaar zwar davon, dass viele seiner Klienten mit »einer guten Prognose« entlassen würden. Wenig später räumt er aber auch ein, dass auch er nie wisse, wer langfristi­g möglicherw­eise doch wieder straffälli­g werde und deshalb wieder im Gefängnis lande. Die Arbeit, die er und seine Kollegen leisten, ist auch eine Arbeit, die viel mit Hoffnung zu tun hat. Die Hoffnung darauf, dass der Neubeginn auch wirklich klappt.

Am Ende ist es deshalb so, wie manche Thüringer Staatsanwä­lte oder Richter es sagen, wenn man sie fragt, warum sie für manche Kriminelle nicht härtere Strafen fordern oder verhängen und deshalb viele Bewährungs­strafen verhängt werden, statt die Straftäter ins Gefängnis zu schicken. »Im Gefängnis«, formuliert das ein Jurist im Dienst des Freistaats, »werden sie ja nicht besser.«

Essen, schlafen, Sport machen, arbeiten, Besuch empfangen – für all das und noch viel mehr gibt es im Knast Regeln, die dem Einzelnen nur einen sehr beschränkt­en Entscheidu­ngsspielra­um lassen. Draußen ist das anders.

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Foto: photocase/MathiasSch­aefer

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