Neu beginnen
Die Rückkehr ins Leben draußen ist für Ex-Häftlinge eine Herausforderung
Es gibt ein Haus in Thüringen, in dem bekommen Ex-Häftlinge die Chance auf einen Neuanfang nach der Haft. Manche nutzen sie.
Nur ganz kurz öffnet sich eine der Türen, die zu den Zimmern führen, die von dem schmalen Flur zur Seite hin abzweigen. Ein schmächtiger Mann ist kaum merklich den Gang entlang gehuscht, hat seinen Schlüssel aus der Tasche gezogen und ihn ins Schloss gesteckt. Er trägt eine helle Jacke, eine dunkle Jeans. Hätte der Schlüssel im Schloss nicht ein leises Klacken von sich gegeben, die Anwesenheit des Mannes hätte niemand bemerkt. Er selbst scheint erschrocken zu sein von diesem Geräusch. Der Mann ist Ende 30, vielleicht Ende 40, so genau lässt sich das nicht sagen.
Am Ende des Flurs ist eine Treppe, die nach oben führt, wo ein kleines Badezimmer ist. Die Augen des Mannes huschen den Gang entlang, senken sich dann wieder auf den Boden, ganz so, als wollte er sich für das Klacken des Schlüssels entschuldigen. Dann sagt er leise: »Guten Tag.« Er drückt die Tür auf, tritt in das Zimmer und schließt die Tür sofort leise hinter sich.
Immerhin aber hat der Mann einen eigenen Schlüssel zu seinem Zimmer. Was für viele der hier Lebenden etwas Besonderes ist. Denn die Schlüssel bedeuten ein großes Stück Freiheit. Und Privatsphäre. Auch wenn sie ihre Zimmer manchmal noch »Zellen« nennen. Auf beides mussten sie oft jahrelang verzichten, weil sie in einem Gefängnis saßen; oft in einer Thüringer Haftanstalt, manchmal in einer, die in einem anderen deutschen Bundesland liegt. Mittlerweile nämlich, sagt Alexander Schaar, sei dieses Haus mit seinen Zimmern, dem Bad und der kleinen Gemeinschaftsküche im Erdgeschoss bundesweit so bekannt, dass sich Menschen aus der gesamten Bundesrepublik um einen Platz hier bewerben. Für die, die nicht aus Thüringen kommen, sagt Schaar, gehe es dabei häufig darum, »raus zu kommen aus dem alten Dunstkreis«.
Oft, wie auch in diesen Tagen, ist dieses Haus, das auf den Namen »Neubeginn« hört und in Erfurt liegt, deshalb voll belegt. Manchmal sogar übervoll. An dem Tag, an dem der Mann mit der hellen Jacke und der dunklen Jeans so schüchtern mit dem Schlüssel hantiert, ist sogar der gemeinschaftliche Aufenthaltsraum der Einrichtung zu einem Wohnraum für einen weiteren Mann umfunktioniert worden. Regulär gibt es im Haus »Neubeginn« zwölf Plätze.
Die, die hierher zu Schaar kommen und ihn manchmal aus Gewohnheit »Schließer« nennen, versuchen nicht selten, sich zumindest für einige Wochen oder einige Monate möglichst unauffällig zu verhalten. Etwa dann, wenn sie fremden Menschen begegnen, wenn sie sich auf den Straßen bewegen oder im Supermarkt einkaufen gehen. Was bei genauerem Nachdenken darüber nicht überraschend ist, müssen sie doch erst wieder lernen, wie das Leben außerhalb des Gefängnisses abläuft. Thüringens Justizminister Dieter Lauinger bringt das gut auf den Punkt: »Das ist ein Phänomen langer Haftstrafen«, sagt er. »Im Gefängnis wird einem ja alles abgenommen. Man wird völlig entselbstständigt.« Essen, schlafen, Sport machen, arbeiten, Besuch empfangen – für all das und noch viel mehr gibt es im Knast Regeln, die dem Einzelnen nur einen sehr beschränkten Entscheidungsspielraum lassen. Draußen ist das anders.
Schaar weiß deshalb nach all seinen Jahren als Leiter des Haus Neubeginn ziemlich gut, wie schwer es für viele einstige Gefängnisinsassen, die in seiner Einrichtung unterkommen, ist, wieder Fuß zu fassen in der Welt jenseits von Anstaltsmauern und klaren Regeln. Weil es in dieser Welt nicht reicht, nicht aufzufallen. Weil die Ex-Häftlinge irgendwann wieder raus müssen aus diesem Haus. Weil sie dazu eine eigene Wohnung brauchen; und eigentlich auch wieder soziale Kontakte zu ihren Familien oder neuen Freunden sowie einen Job. »Das, was für uns eine Selbstverständlichkeit ist, ist es für unsere Klienten oft nicht«, sagt Schaar. Wenige Tage zuvor ist der 427. Mann innerhalb von 25 Jahren in das Haus eingezogen, das Schaar seit 21 Jahren leitet. »Richtig zu telefonieren, richtig einzukaufen, sich richtig, also gesund zu ernähren, all das ist für unsere Klienten eine Herausforderung«, sagt Schaar.
Lauinger – der vor seiner Zeit als Minister Richter am Landgericht Erfurt war – erzählt, dass er vor vielen Jahren mit einem Gefangenen zu tun hatte, der zuletzt in Freiheit gewesen sei, als Deutschland noch entlang des Eisernen Vorhangs geteilt war; und der sich mit dem Leben in Freiheit im wiedervereinigten Deutschland dann enorm schwer getan habe, nachdem er aus der Haft entlassen worden sei. Und weil auch viele Gefangene wüssten, dass es für sie nicht einfach ist, nach Jahren hinter Gittern wieder in Freiheit zu leben, gebe es immer wieder Fälle, in denen Gefangene bei Anhörungen vor Richtern – bei denen ihre vorzeitige Haftentlassung geprüft wird – erklärten, sie wollten lieber noch länger im Gefängnis bleiben, statt schneller zurück in Freiheit zu kommen; vor allem dann, wenn ihr Leben in Freiheit mit Bewährungs- auflagen verbunden wäre, die bei vorzeitiger Haftentlassung üblich sind.
Umso wichtiger freilich ist die Chance, die das Haus »Neubeginn« und ähnliche Einrichtungen aus der Haft entlassenen Männern bieten. Insgesamt drei Mitarbeiter des von der Arbeiterwohlfahrt Thüringen getragenen Hauses kümmern sich dort zunächst um so ziemlich alles, womit die Ex-Gefangenen in Freiheit konfrontiert werden. Angefangen von der Ummeldung der Wohnadresse über die ersten Einkäufe gemeinsam mit den Klienten bis hin zu Bewerbungstrainings. Was jeder Bewohner der Einrichtung brauche, sagt Schaar, werde immer individuell festgelegt, in Einzelgesprächen. Gruppenseminare oder Selbstfindungskurse in großer Runde gebe es nicht, zu verschieden seien die Probleme der Klienten. Mit dem einen gingen er und seine Kollegen zum Amt, sagt Schaar. Mit dem anderen kümmerten sie sich um Termine beim Schuldnerberater. Mit dem nächsten versuche man, die abgebrochenen Kontakte zur Freundin oder den Kindern wieder aufzubauen. »Denn das Beste, was unserem Klienten passieren kann«, sagt Schaar, »ist, dass sie wieder Kontakt zu ihren Familien bekommen.«
Einige der Probleme, um die man sich im Haus »Neubeginn« kümmert, tauchen trotz aller individuellen Lösungsansätze selbstverständlich immer wieder auf. Der Umgang mit Drogen und Alkohol seien bei sehr vielen der einstigen Gefangenen ebenso üblich wie die Tatsache, dass die Mehrzahl von ihnen Schulden habe. Selbst wenn jemand im Gefängnis über lange Zeit nicht permanent unter dem Einfluss von Drogen oder Alkohol gestanden habe, werde er in Freiheit sehr schnell wieder rückfällig, sagt Schaar. »Für einen Suchtabhängigen gibt es immer einen Grund, seiner Sucht nachzugehen.« Sobald Rauschmittel für solche Menschen wieder einfach verfügbar seien, »bricht das wieder durch«. Dass auf den Zimmern des Hauses ein striktes Alkoholverbot herrscht, könne nicht verhindern, dass die Männer auf der Straße trinken. Den Kampf gegen die Suchtmittel nennt Schaar deshalb einen »Kampf gegen Windmühlen«, während er gleichzeitig davor warnt, die Ex-Gefangenen deshalb zu stigmatisieren. Er habe kürzlich, sagt er, einen Mann betreut, der regelmäßig und viel getrunken habe – und trotzdem jeden Morgen pünktlich zur Arbeit gegangen sei.
Wie lange die Männer im Haus »Neubeginn« bleiben, dort ihre zwölf bis 15 Quadratmeter großen Zimmer, das gerade mit von Lauinger verwalteten Lottogeldern sanierte Badezimmer und die kleine Küche mit den beige-farbenen Schränken, dem Elektroherd und der Brotschneidemaschine nutzen, ist ganz unterschiedlich. Alles in allem steige die Aufenthaltsdauer der Männer allerdings eher, als dass sie abnehme, sagt Schaar. Manche blieben inzwischen bis zu zwei Jahre in der Einrichtung. Wohl auch, weil es trotz der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt für diese Männer schwer bleibt, einen Job zu finden und sich die Suche nach einer gänzlich eigenen Wohnung für sie auch alles andere als einfach darstellt.
Zwar, sagt Schaar, hätten die ExGefangenen, gerade im mittelthüringischen Raum mit seinen vielen Logistikfirmen eigentlich gute Chancen, als Lagerarbeiter eine Beschäftigung zu finden. Oder in der Gastronomie zu arbeiten. Oder bei Reinigungsfirmen einen Job zu finden. »Die Zeiten, dass unsere Klienten von Arbeitgebern weggeschickt wurden, weil sie im Gefängnis saßen, sind vorbei.« Allerdings gebe es trotzdem immer wieder Fälle, in denen Arbeitgeber und Klienten dann noch nicht zusammenfänden. Einmal zum Beispiel, erzählt Schaar, habe er einen Klienten – einen jungen Koch – in die Küche eines angesehenen Erfurter Restaurants vermitteln können. Erst Praktikum, dann Arbeitsvertrag, alles gut.
Doch dann habe der Mann an seinem ersten richtigen Arbeitstag verschlafen. Und obwohl er noch eine weitere Chance von seinem Chef bekommen habe, sei er dann nicht mehr zur Arbeit gegangen. »Er hatte plötzlich keinen Bock mehr«, sagt Schaar. Wofür Lauinger eine Erklärung hat. »Viele Ex-Häftlinge zerbrechen draußen am Zeitdruck. Denn für die Arbeit im Knast spielt Zeit keine Rolle. Wenn man da eines hat, dann ist es Zeit.« In der Arbeitswelt draußen, ist das freilich ganz anders. Besonders im Logistikgewerbe, im Hotelund Gaststättenbereich.
Und weil das alles so ist, spricht Schaar zwar davon, dass viele seiner Klienten mit »einer guten Prognose« entlassen würden. Wenig später räumt er aber auch ein, dass auch er nie wisse, wer langfristig möglicherweise doch wieder straffällig werde und deshalb wieder im Gefängnis lande. Die Arbeit, die er und seine Kollegen leisten, ist auch eine Arbeit, die viel mit Hoffnung zu tun hat. Die Hoffnung darauf, dass der Neubeginn auch wirklich klappt.
Am Ende ist es deshalb so, wie manche Thüringer Staatsanwälte oder Richter es sagen, wenn man sie fragt, warum sie für manche Kriminelle nicht härtere Strafen fordern oder verhängen und deshalb viele Bewährungsstrafen verhängt werden, statt die Straftäter ins Gefängnis zu schicken. »Im Gefängnis«, formuliert das ein Jurist im Dienst des Freistaats, »werden sie ja nicht besser.«
Essen, schlafen, Sport machen, arbeiten, Besuch empfangen – für all das und noch viel mehr gibt es im Knast Regeln, die dem Einzelnen nur einen sehr beschränkten Entscheidungsspielraum lassen. Draußen ist das anders.