Heilige des Wohnens
Mit Santa Marí la Juaricua gegen die Gentrifizierung in Mexiko-Stadt.
In Mexiko-Stadt sind Innenstadtviertel von Aufwertung, steigenden Mieten und Verdrängung betroffen. Um für das Problem zu sensibilisieren haben zwei Künstler eine Heilige geschaffen. »Wir haben immer vor der Entwicklung gewarnt, aber niemand hat auf uns gehört, wir wurden für verrückt erklärt«, sagt Jorge Baca, bildender Künstler und Aktivist. »Der gemeine Nachbar verwechselt Gentrifizierung mit Fortschritt und Entwicklung und hat die negativen Konsequenzen nicht im Blick.«
Baca lebt in der vierten Generation in Santa María la Ribera, einem Viertel unweit des historischen Zentrums von Mexiko-Stadt. »Vor vier Jahren wurde Santa María la Ribera noch Santa María Rattenloch genannt, weil es ein sehr gefährliches Viertel war«, sagt Baca. »Heute ist es ein Modeviertel für Hipster und Künstler.« Es habe eine »brutale Gentrifizierung« gegeben. Immobilienfirmen kauften ganze Straßenzüge auf, die Mieten stiegen, Modeläden, Lofts und Gourmet-Restaurants ersetzten die TanteEmma-Läden und schmuddeligen Eckkneipen, langjährige Bewohner wurden verdrängt. In Juárez, dem Viertel von Sandra Valenzuela, ebenfalls bildende Künstlerin, hatte eine ähnliche Entwicklung bereits einige Jahre zuvor eingesetzt.
Baca und Valenzuela lernten sich 2015 während der Nachbarschaftsinitiativen gegen den Corredor Cultural de Chapultepec, eine gigantische, privat finanzierte Fußgängermeile, die später in einem Volksentscheid abgelehnt wurde, kennen und wurden Freunde.
»Als Künstler sind wir oft die Speerspitze der Gentrifizierung«, nimmt Valenzuela die eigene Verwicklung in den Blick. »Niemand ist unschuldig. Wir ziehen in zentrumsnahe, historische Viertel mit günstigen Mieten, gründen alternative Läden, schaffen Kulturangebote, und langsam kommt das Viertel in Mode. Das zieht Immobilieninvestoren an und die Verteuerung beginnt.«
Es würden bewusst Bedingungen geschaffen, damit Künstler kommen, wirft Baca ein. »Es sind Etappen der Immobilienaufwertung; alles folgt einem ökonomischem Plan«, sagt er. Behörden und Immobilienunternehmen steckten dabei oft unter einer Decke.
»Wir wussten, in dieser asymmetrischen Auseinandersetzung benötigen wir Hilfe«, erzählt Baca. »Eines Tages haben wir dagesessen und herumgealbert: Uns hilft nur noch Beistand von oben. Nur eine Gottheit kann uns jetzt noch helfen.«
Sie erinnerten sich an die hölzerne Heiligenfigur, die Valenzuela aus dem Schutt einer Abrisswohnung gezogen und mit Hilfe eines Freundes der Familie restauriert hatte. Sie verpassten der Figur ein weißes Gewand, eine Brille, einen Sombrero und einen Hund, den sie Banqueta, Parkbank, tauften, in Anspielung auf ein Symbol für den öffentlichen Raum.
Und so wurde aus der restaurierten Heiligenfigur die Anti-Hipster-Heilige Santa Marí la Juaricua, ein ironisches Kunstprojekt, das auf mit der Gentrifizierung verbundene Probleme aufmerksam machen soll. Der Name Santa Marí la Juarica setzt sich zusammen aus den Vierteln Santa María la Ribera und Juárez, deren Bewohner als juaricuos bezeichnet werden. »Es ist keine Heilige gegen die Gentrifizierung, sondern eine Heilige für das Recht auf Wohnraum und vielfältige Viertel, eine Heilige gegen Klassismus und Rassismus«, sagt Valenzuela.
Santa Marí la Juaricua erhielt einen kleinen Altar vor dem Atelier von Sandra Valenzuela im Viertel Juárez. Die Inschrift »Kunstvitrine« verdeutlichte den künstlerischen Charakter des Altars. Doch viele Leute nahmen die Figur als religiöse Ikone wahr. Passanten bekreuzigten sich im Vorbeigehen. Vor allem aber kam man ins Gespräch. »Dadurch haben wir mit wildfremden Leuten über steigende Mieten und Grundsteuer geredet, über Zwangsräumungen. Und die, die früher applaudiert haben, wenn ein altes Haus abgerissen und durch ein modernes Gebäude ersetzt wurde, entwickelten ein Bewusstsein, dass sie selbst bedroht sind«, sagt Baca.
»Vom Glauben aus kannst du Empathie schaffen«, erklärt Valenzuela zur Beziehung von Religiosität und Kunst. »Es funktioniert, denn als ›gute Mexikaner‹ begeben wir uns bereitwillig in die Hände Gottes«, so Baca. Aberglauben, Gott anzurufen, magisches, religiöses Denken, um unsere Probleme zu lösen – all das sei sehr mexikanisch, sagt er. »Deshalb funktioniert es und Du erreichst Leute, die Du sonst nie erreichen würdest.«
Sie hätten aber immer wieder deutlich gemacht, dass sie Niemanden hinters Licht führen wollen. Manchmal sei ihm der religiöse Aspekt fast schon unheimlich geworden, bekennt Baca, der selbst praktizierender Katholik ist. »Wir haben Santa Marí la Juaricua mit allem Respekt geschaffen. Es ist ein zeitgenössisches Kunstprojekt, eine libertäre, anarchische, laizistische Heilige.«
»Das Seltsame und Magische ist: Es hat funktioniert. Vor drei Jahren waren wir noch allein – mittlerweile gibt es ein gewaltiges Interesse.« Für Baca »ein Wunder«. »Mit der Heiligen haben wir Probleme sichtbar gemacht, die Behörden und Investoren lieber im Dunkeln belassen, und wir haben Gemeinschaft geschaffen. Wunder erfüllt, würde ich sagen.«
Auch andere wundersame Erscheinungen werden Santa Marí la Juaricua mittlerweile zugeschrieben. Einmal, als er die Pflanzen des Altars goss, sei er von Passanten gelobt worden, dass er sich um den Altar der Schutzheiligen kümmere, denn sie vollbringe Wunder, erzählt Baca schmunzelnd. »Ich habe sie gefragt, was für Wunder sie vollbracht habe und eine Frau erzählte mir, dass sie vor einigen Tagen aus ihrer Wohnung zwangsgeräumt werden sollte. Auf einmal erschien eine weiß gekleidete Frau mit Brille und Hut, identisch mit der Heiligen. Es stellte sich heraus, dass es eine Anwältin war, die sich für die Situation der Frau interessierte und die Räumung stoppte, da diese illegal war. Sie verlangte keinerlei Bezahlung und verschwand genauso plötzlich wie sie aufgetaucht war.«
»Mit der Heiligen haben wir Probleme sichtbar gemacht, die Behörden und Investoren lieber im Dunkeln belassen, und wir haben Gemeinschaft geschaffen. Wunder erfüllt, würde ich sagen.«
Jorge Baca, bildender Künstler und Aktivist