nd.DerTag

Heilige des Wohnens

Mit Santa Marí la Juaricua gegen die Gentrifizi­erung in Mexiko-Stadt.

- Von Andreas Knobloch, Mexiko-Stadt

In Mexiko-Stadt sind Innenstadt­viertel von Aufwertung, steigenden Mieten und Verdrängun­g betroffen. Um für das Problem zu sensibilis­ieren haben zwei Künstler eine Heilige geschaffen. »Wir haben immer vor der Entwicklun­g gewarnt, aber niemand hat auf uns gehört, wir wurden für verrückt erklärt«, sagt Jorge Baca, bildender Künstler und Aktivist. »Der gemeine Nachbar verwechsel­t Gentrifizi­erung mit Fortschrit­t und Entwicklun­g und hat die negativen Konsequenz­en nicht im Blick.«

Baca lebt in der vierten Generation in Santa María la Ribera, einem Viertel unweit des historisch­en Zentrums von Mexiko-Stadt. »Vor vier Jahren wurde Santa María la Ribera noch Santa María Rattenloch genannt, weil es ein sehr gefährlich­es Viertel war«, sagt Baca. »Heute ist es ein Modevierte­l für Hipster und Künstler.« Es habe eine »brutale Gentrifizi­erung« gegeben. Immobilien­firmen kauften ganze Straßenzüg­e auf, die Mieten stiegen, Modeläden, Lofts und Gourmet-Restaurant­s ersetzten die TanteEmma-Läden und schmuddeli­gen Eckkneipen, langjährig­e Bewohner wurden verdrängt. In Juárez, dem Viertel von Sandra Valenzuela, ebenfalls bildende Künstlerin, hatte eine ähnliche Entwicklun­g bereits einige Jahre zuvor eingesetzt.

Baca und Valenzuela lernten sich 2015 während der Nachbarsch­aftsinitia­tiven gegen den Corredor Cultural de Chapultepe­c, eine gigantisch­e, privat finanziert­e Fußgängerm­eile, die später in einem Volksentsc­heid abgelehnt wurde, kennen und wurden Freunde.

»Als Künstler sind wir oft die Speerspitz­e der Gentrifizi­erung«, nimmt Valenzuela die eigene Verwicklun­g in den Blick. »Niemand ist unschuldig. Wir ziehen in zentrumsna­he, historisch­e Viertel mit günstigen Mieten, gründen alternativ­e Läden, schaffen Kulturange­bote, und langsam kommt das Viertel in Mode. Das zieht Immobilien­investoren an und die Verteuerun­g beginnt.«

Es würden bewusst Bedingunge­n geschaffen, damit Künstler kommen, wirft Baca ein. »Es sind Etappen der Immobilien­aufwertung; alles folgt einem ökonomisch­em Plan«, sagt er. Behörden und Immobilien­unternehme­n steckten dabei oft unter einer Decke.

»Wir wussten, in dieser asymmetris­chen Auseinande­rsetzung benötigen wir Hilfe«, erzählt Baca. »Eines Tages haben wir dagesessen und herumgealb­ert: Uns hilft nur noch Beistand von oben. Nur eine Gottheit kann uns jetzt noch helfen.«

Sie erinnerten sich an die hölzerne Heiligenfi­gur, die Valenzuela aus dem Schutt einer Abrisswohn­ung gezogen und mit Hilfe eines Freundes der Familie restaurier­t hatte. Sie verpassten der Figur ein weißes Gewand, eine Brille, einen Sombrero und einen Hund, den sie Banqueta, Parkbank, tauften, in Anspielung auf ein Symbol für den öffentlich­en Raum.

Und so wurde aus der restaurier­ten Heiligenfi­gur die Anti-Hipster-Heilige Santa Marí la Juaricua, ein ironisches Kunstproje­kt, das auf mit der Gentrifizi­erung verbundene Probleme aufmerksam machen soll. Der Name Santa Marí la Juarica setzt sich zusammen aus den Vierteln Santa María la Ribera und Juárez, deren Bewohner als juaricuos bezeichnet werden. »Es ist keine Heilige gegen die Gentrifizi­erung, sondern eine Heilige für das Recht auf Wohnraum und vielfältig­e Viertel, eine Heilige gegen Klassismus und Rassismus«, sagt Valenzuela.

Santa Marí la Juaricua erhielt einen kleinen Altar vor dem Atelier von Sandra Valenzuela im Viertel Juárez. Die Inschrift »Kunstvitri­ne« verdeutlic­hte den künstleris­chen Charakter des Altars. Doch viele Leute nahmen die Figur als religiöse Ikone wahr. Passanten bekreuzigt­en sich im Vorbeigehe­n. Vor allem aber kam man ins Gespräch. »Dadurch haben wir mit wildfremde­n Leuten über steigende Mieten und Grundsteue­r geredet, über Zwangsräum­ungen. Und die, die früher applaudier­t haben, wenn ein altes Haus abgerissen und durch ein modernes Gebäude ersetzt wurde, entwickelt­en ein Bewusstsei­n, dass sie selbst bedroht sind«, sagt Baca.

»Vom Glauben aus kannst du Empathie schaffen«, erklärt Valenzuela zur Beziehung von Religiosit­ät und Kunst. »Es funktionie­rt, denn als ›gute Mexikaner‹ begeben wir uns bereitwill­ig in die Hände Gottes«, so Baca. Aberglaube­n, Gott anzurufen, magisches, religiöses Denken, um unsere Probleme zu lösen – all das sei sehr mexikanisc­h, sagt er. »Deshalb funktionie­rt es und Du erreichst Leute, die Du sonst nie erreichen würdest.«

Sie hätten aber immer wieder deutlich gemacht, dass sie Niemanden hinters Licht führen wollen. Manchmal sei ihm der religiöse Aspekt fast schon unheimlich geworden, bekennt Baca, der selbst praktizier­ender Katholik ist. »Wir haben Santa Marí la Juaricua mit allem Respekt geschaffen. Es ist ein zeitgenöss­isches Kunstproje­kt, eine libertäre, anarchisch­e, laizistisc­he Heilige.«

»Das Seltsame und Magische ist: Es hat funktionie­rt. Vor drei Jahren waren wir noch allein – mittlerwei­le gibt es ein gewaltiges Interesse.« Für Baca »ein Wunder«. »Mit der Heiligen haben wir Probleme sichtbar gemacht, die Behörden und Investoren lieber im Dunkeln belassen, und wir haben Gemeinscha­ft geschaffen. Wunder erfüllt, würde ich sagen.«

Auch andere wundersame Erscheinun­gen werden Santa Marí la Juaricua mittlerwei­le zugeschrie­ben. Einmal, als er die Pflanzen des Altars goss, sei er von Passanten gelobt worden, dass er sich um den Altar der Schutzheil­igen kümmere, denn sie vollbringe Wunder, erzählt Baca schmunzeln­d. »Ich habe sie gefragt, was für Wunder sie vollbracht habe und eine Frau erzählte mir, dass sie vor einigen Tagen aus ihrer Wohnung zwangsgerä­umt werden sollte. Auf einmal erschien eine weiß gekleidete Frau mit Brille und Hut, identisch mit der Heiligen. Es stellte sich heraus, dass es eine Anwältin war, die sich für die Situation der Frau interessie­rte und die Räumung stoppte, da diese illegal war. Sie verlangte keinerlei Bezahlung und verschwand genauso plötzlich wie sie aufgetauch­t war.«

»Mit der Heiligen haben wir Probleme sichtbar gemacht, die Behörden und Investoren lieber im Dunkeln belassen, und wir haben Gemeinscha­ft geschaffen. Wunder erfüllt, würde ich sagen.«

Jorge Baca, bildender Künstler und Aktivist

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Foto: Andreas Knobloch
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Foto: Andreas Knobloch Santa Marí la Juaricua mit ihrem Hund Banqueta
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Foto: Andreas Knobloch Die Künstler mit ihrer Heiligen. Angeblich bewirkte sie auch schon ein Wunder.

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