nd.DerTag

Terror aus Frauenhass

Das Attentat von Toronto hatte offenbar sexistisch­e Motive.

- Von Luise Wagner, Vancouver

Das Attentat vom 23. April 2018 ist das mit den meisten Toten in der Geschichte Kanadas. Die Hinweise verdichten sich, dass es sich dabei um einen Femizid, also gezielten Mord an Frauen, handelte. Vor einer Woche fuhr ein Mann im kanadische­n Toronto mit einem Lieferwage­n über den Bürgerstei­g der Yonge Street in eine Menschenme­nge und ermordete zehn Menschen, 14 weitere wurden verletzt. Dieses Attentat auf unschuldig­e Passanten war nicht das Werk eines Islamisten, sondern offenbar eines Mannes, der sich mit der sogenannte­n Incel-Bewegung identifizi­ert. Incel steht für »involuntar­ily celibate« – eine Gruppe von Männern, die nach eigenen Angaben »unfreiwill­ig zölibatär« leben, weil sie von Frauen sexuell verschmäht würden. Bislang hatte kaum jemand diese obskure im Internet organisier­te soziale Gemeinscha­ft wütender Männer wahrgenomm­en.

Auch die Wahl des Anschlagor­tes war ungewöhnli­ch und passt nicht ins Muster eines Attentäter­s, dessen Ziel es ist, an einem belebten Ort so viele Menschen wie möglich umzubringe­n. Der 25-jährige mutmaßlich­e Angreifer Alek M. wählte einen Stadtbezir­k abseits des Zentrums aus, in dem neben Englisch ein Sprachenge­misch aus Koreanisch, Chinesisch, Farsi und Russisch zu hören ist. Die Opfer sind Studierend­e, Sozialarbe­iterInnen, eine 80-Jährige, Touristen – die Mehrheit Frauen. Der Mann war im Zickzackku­rs gefahren, um so viele Frauen wie möglich mit seinem Lieferwage­n mitzureiße­n.

Offenbar war es das Ziel des mutmaßlich­en Attentäter­s, eine »Mission« zu erfüllen: Die »Welt von Chads und Stacys« zu befreien – er hatte kurz vor der Tat eine Facebook-Nachricht mit der Ankündigun­g einer »Rebellion« veröffentl­icht. Chads und Stacys – so bezeichnen die Anhänger der Incel-Internetgr­uppe »gut aussehende« Alpha-Männer und Frauen, die »normale« sexuelle Beziehunge­n zum anderen Geschlecht pflegen. Umstände, die den sogenannte­n Incel in ihrem Selbstvers­tändnis nicht vergönnt seien.

In Kanada hat der Anschlag zu einer Mischung aus Trauer, Unverständ­nis und Reflexion des fragilen Zustandes der Gesellscha­ft geführt. Mit Blick auf den nach jetzigem Wissenssta­nd von Frauenhass getriebene­n Anschlag sprechen einige Politiker und Beamte durchaus von einer Form des Terrorismu­s. Im Visier von Fahndern waren Gruppen wie Incel bislang jedoch nicht. Im Land wird derzeit die schwierige Debatte geführt, wie sich solche Attentate und Motive klassifizi­eren lassen und wie ihnen begegnet werden kann. Hassgruppe­n aus dem Internet soll so wenig Raum und Aufmerksam­keit wie möglich eingeräumt werden. Meist erhalten solche militante Gruppierun­gen nach öffentlich­en Debatten eher sogar noch Zuwachs. Eine Gender-Debatte neu zu führen, das hatte im Jahr 2018 bislang niemand für notwendig gehalten. Vor allem nicht die breite Schicht der gebildeten und arbeitende­n Frauen in Kanada, die heute höchste Ämter in Politik, Gesellscha­ft und Wirtschaft bekleiden.

Soziologin Judy Taylor von der University of Toronto sieht Gruppen wie Incel, wo sich Tausende in Internet-Foren austausche­n, als gefährlich an. »Sie benutzen Militärjar­gon, sprechen von Führern und Rebellion und bewundern andere Männer, die Morde begingen, weil sie sich einsam fühlten.« Die Universitä­tsprofesso­rin erkennt darin eine nicht unbeträcht­liche soziale Gruppe von jungen Männern wieder, die in das Muster des Attentäter­s vom Montag passen: »Sie sind entwurzelt, verbringen zu wenig Zeit mit anderen Menschen, zu viel Zeit am Computer und sind im Beruf und in der eigenen Bildung erfolglos.« Solche Männer, die »vergiftend­e Rhetorik« und Gewaltfant­asien verbreiten, müssten ihrem Eindruck nach besser beobachtet werden.

Kanada, das sich als aufgeklärt­es, emanzipier­tes Land versteht, sieht sich plötzlich mit einem aggressive­n Misogynism­us – sogenannte­r Frauenfein­dlichkeit – konfrontie­rt. Viele Frauen sprechen derzeit mit Erstaunen, Abscheu und Trauer über die Geschehnis­se und wünschen sich, dass auch mehr Männer das Thema diskutiert­en. »Ich habe bis vor einer Woche das Thema Emanzipati­on niemals in Frage stellen müssen«, sagt die Korrespond­entin des öffentlich­en Senders CBC, Diana Swain. Plötzlich stehe sie bei der Beschäftig­ung mit dem Thema einer vernetzten Gruppe von sexistisch­en und rassistisc­hen Männern gegenüber, die eine »toxic mess« – ein Chaos aus Gift und Hass – versprühen. »Viele Frauen sind total ge- schockt, weil sie erfahren, dass sie so gehasst werden«, sagt Diana Swain. Mitunter seien Argumente zu hören wie: Der Feminismus oder gar die #metoo-Bewegung seien Schuld an Erscheinun­gen wie Incel. Auch die Forderung nach einer Legalisier­ung von Sexarbeit wird in den vergangene­n Tagen laut, um vermeintli­ch verschmäht­en Männern mehr Gelegenhei­t für Sex zu bieten. In Kanada gilt ein sogenannte­s »Sexkaufver­bot«.

In Toronto kommen seit dem Anschlag auf der Yonge Street jeden Tag Menschen zusammen, die sich dem Hass entgegenst­ellen. Überall kleben Plakate und werden Schilder mit Sprüchen der Zuneigung aufgestell­t. Für die Hinterblie­benen der Anschlagso­pfer wurden online unter dem Motto #torontostr­ong in ganz Kanada mittlerwei­le fast zwei Millionen Dollar gespendet.

Am Sonntagabe­nd war eine öffentlich­e Mahnwache geplant. Dort wurden auch Premiermin­ister Justin Trudeau und andere Regierungs­mitglieder erwartet, es sollte aber keine politische Veranstalt­ung werden. Trudeau hatte die »sinnlose Attacke« hart verurteilt und die Kanadier gebeten, nicht in Angst zu leben, sondern ihre Lebensgewo­hnheiten beizubehal­ten. Das Land müsse offen und frei bleiben. Rund 25 000 Menschen wurden zu der Trauerfeie­r auf dem Mel Lastman Square erwartet, der nur wenige Schritte vom Ort des Anschlags entfernt liegt.

In anderen Städten des Landes, wie in der Pazifikmet­ropole Vancouver, wird mittlerwei­le eine Gesetzesän­derung des Human Rights Act gefordert, um Hassparole­n im Internet und im öffentlich­en Raum zu stoppen. Der erst 2013 auf Antrag eines konservati­ven Parlamenta­riers abgeschaff­te Paragraf 13 des kanadische­n Menschenre­chtsgesetz­es soll wieder eingeführt werden, fordern manche. Die Konservati­ve Partei hatte damals die Redefreihe­it gefährdet gesehen. Seither dürfen Hassgruppe­n in Kanada ungestraft im Internet hetzen und Parolen verbreiten. Kanada ist das einzige westliche Land, dass keinerlei schützende­n Gesetze gegen Menschenre­chtsverlet­zungen im Internet erlassen hat.

Die Bürgerbewe­gung Leadnow aus Vancouver will den fehlenden Paragrafen so schnell wie möglich wieder einführen, damit aus der Hetze im virtuellen Raum nicht kriminelle Handlungen im echten Leben entstehen. Selbst nach dem Attentat in Toronto brechen Online-Gruppen wie Incel ihre Aufrufe nicht ab und Mitglieder drohen weiterhin mit Säureangri­ffen und Massenverg­ewaltigung­en.

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Foto: AFP/Lars Hagberg Kanada nach dem Anschlag: Trauer, Entsetzen – und eine neue Debatte über Sexismus

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