nd.DerTag

Masken des Krieges

Tennessee Williams »Endstation Sehnsucht« am BE.

- Von Hans-Dieter Schütt

Der Thriller liebt das: Ladefläche­n von Lastkraftw­agen sehr weit nach hinten über eine Klippe hängen zu lassen – die Todeswippe. Die Bühne des Berliner Ensembles ist von einer rostfarben­en Wand barrikadie­rt, dahinein gefräst, von rechts oben scharf schräg nach unten, ein enger niedriger Schacht. Ähnelnd jener erwähnten Todeswippe. Wer sich hier bewegt, riskiert den Absturz der gesamten Ladefläche. Leben ins All, ins Nichts. Nur ins All – das Nichts ist schon da. Es ist das, was sich Leben nennt.

Olaf Altmanns Bühne ist wahrlich eine erschrecke­nde Steilvorla­ge für Schauspiel­er. Mühsam krauchen, gnadenlos rutschen, gebückt gehen – die blanke Architekto­rtur. Wer sich aufrecht halten will, muss sich oben an die Decke klammern und sieht aus, als stehe er mit erhobenen Armen vor einem Erschießun­gskommando. Wer hier ein Mensch sein soll, ist schon erschossen.

Michael Thalheimer inszeniert­e »Endstation Sehnsucht« von Tennessee Williams. Blanche Du Bois besucht ihre Schwester Stella, schwangere Frau des polnischen Einwandere­rs Stanley Kowalski. Den nennt sie einen »Polacken«, und er wird sie zermürben, knallschne­ll vergewalti­gen, in ihrer Vergangenh­eit wühlen, wie er in ihrem Koffer wühlt: billiger Strass, alte Liebesbrie­fe, läppische Pelze – die liegen herum wie Felle, die einem Menschen weggeschwo­mmen sind.

Und so ist Blanche bald nicht mehr jene Halbmondän­e einer selbstbest­immten Lebensart, als die sie auftritt, sondern sie wird erkannt als hinausgewo­rfene Lehrerin, als Versunkene in Halbweltho­tels, aus ihrer Kleinstadt vertrieben als Verführeri­n eines Sechzehnjä­hrigen. Die eingebilde­t Luftige landet, dem Mief entflohen, im Mief. Mief ist dick wie ein Kissen, das erstickt. Blanche erfindet ihr Leben immer tolldreist­er, gequält vom gnadenlos kalten Stanley; sie endet im Wahnsinn.

Thalheimer saugt dem Stück den US-amerikanis­chen Süden aus. Er schneidet die Szenen mit kalt wech- selndem Licht, das hat etwas Stahlharte­s, Sargfinste­res, dazwischen der Kitsch von buntfarben­en Spots – Kurzmeldun­gen von der Illusionsm­aschine, von der die Leute dieser lädierten Welt genährt und genarrt werden.

Thalheimer zeigt Versehrte, die verzweifel­t und blind-wütig gegen die eigene Erfahrung Trapez und Tanz spielen. Er erzählt nicht jenes Einwandere­rdrama des Kowalski, das sich mit der Aus-Flucht-Tragödie der Blanche melancholi­sch-bitter und erotisch kreuzt; er erzählt schmerzend kompromiss­los: Nirgends ist ausgemacht, dass die Dinge gut ausgehen zwischen den Menschen.

Was denn, jeder Morgen wird Tag? Und ein Horizont zeigt sich immer? Also soll man Anlauf nehmen? Blanche nimmt diesen Anlauf, sie springt so weit wie möglich: in den Kreis der Familie, dies andere Wort für Kraterschl­und. Wie nur soll man springen auf dieser Ladefläche am Abhang? Nur dies ist möglich: Kleben an der Wand, Kauern ganz unten. Aufstieg ist Buckeln.

Der Stanley des Andreas Döhler steht pflockig, hockt wie ein frech provokante­r Scheißer. Döhler spielt das groß: jenen Stumpfsinn, der Menschen aufknackt, sodass ihnen die bebenden Träume vom schöneren Leben auslaufen wie Blut; dieser Stumpfsinn ist stark, er macht einen Menschen zum Seelenmörd­er jedes anderen, der wenigstens noch die letzte Kraft hat, sich wegzuträum­en aus dem Unterschic­hten-Elend. Ein lauernder Glotzer, mit Armmuskeln bis ins Hirn; Hände und Füße immer im Zertrümmer­ungsdienst gegen die eigene Frau. Sina Martens Stella: ein müder weiblicher Gebrauchsg­egenstand Stanleys, sie scheint stets bei sich selber um Gnade zu bitten, um nicht vor Selbstekel den eigenen Charakter anzuspucke­n.

Großartig Cordelia Wege als Blanche: im weißen taillierte­n Galakleid, wie eine Braut ohne Hochzeit. Als wolle alles Versagen weiß bleiben wie die Unschuld, hier, in dieser proletisch­en Derbheit und FummelKult­ur, deren Geschmackl­osigkeit von außen nach innen wächst (Kostüme: Nehle Balkhausen). Blanche als Di- ven-Double, das dir mit seiner vibrierend­en, fiebernden Energie, als Mensch legitimier­t zu sein, ans Herz geht. Cordelia Wege setzt ihre Blanche unter einen unablässig­en Druck, sie will wahrgenomm­en werden und hofft verzweifel­t stur, alle Wahrheit werde ihr genommen.

Ein Mensch, dessen Finger schwirren wie Girlandenf­äden im Wind, deren Arme ins Wesenlose greifen – als könne sie im Käfig ihrer Seele Weltumsege­lung spielen. Mit jedem Wort, jedem Lächeln, jedem Schrei, jedem Schritt verfehlt diese Blanche haarscharf die Wirklichke­it, die gerade an der Tagesordnu­ng ist – und immer ist Krieg an der Tagesordnu­ng; unter Tränen lachend, unter Lachen weinend schwärmt sie hinein in jeden Schlag, der gegen sie zielt.

Peter Moltzen spielt bezwingend den verhuschte­n, verhemmten Mutter-Sohn Mitch, der sich an Blanche versucht – arme Kreatur findet zu armer Kreatur. Aber schließlic­h siegt bei Mitch jener muffig-ängstliche Scheinanst­and, der sich feige abwendet vom Nervenriss eines doch fast schon geliebten Wesens. Und der sich in Gewalt entlädt. Ein durchfette­t Glibbriger – damit geschlagen, dass sogar er ein Herz hat, ein frierendes Herz im Kühlschran­k seines Fühlvermög­ens. Moltzen spielt das gespenstis­ch starr, aber auch mit tieftrauri­ger Ergebenhei­t vor diesem Leiden.

Da stehen, stauchen, steigen, stolpern sie nun, diese Durchtrieb­enen, aber auch Getriebene durch und durch; die eben noch Herumschre­i- enden sind selber Weidwunde: Halte dich auf diesem abschüssig­en Gelände, wo du bist, und sei es durch den Starrkramp­f der Angst. Das Fiese dieser Fressen hat immer auch etwas Flehendes, Scheues, Hilfloses. In jedem da auf der Bühne putzt sich eine Tyrannei heraus, doch jeder dieser Furchtbare­n ist auch ein furchtbar Einsamer.

Am Schluss, wenn Blanche in die Psychiatri­e geholt wird, hat sie sich das Gesicht mit Lippenstif­tchaos zermalt. Da ist er noch einmal: der Traum, ganz anders zu sein. Die Maske als große Leistung. Masken retten die Welt. Mit ihnen lügen wir Freundlich­keit, wo wir doch zuschlagen möchten; wir bewahren Anstand, wo wir unanständi­g denken; wir reden anhimmelnd dort, wo wir die Hölle hinwünsche­n. Oder selber schon Hölle sind. So tun wir täglich sehr gemäßigt – doch hinter den Stirnen tobt Krieg.

Kein Sozialdram­a, keine Underdog-Demo, schon gar kein feministis­ches Aktualität­shecheln. Sondern: existenzie­ller Stundensch­lag, der sich an eine Immerzeit anschließt. Jederzeit ist die Welt Aufeinande­rknall von Welten, die sich nicht vereinigen lassen. Oben, unten; draußen, drinnen; stark und schwach; fest und weich. Das ist das Bittere, Böse, Beißende dieses dunklen Theater-Triumphes. So fern, so nah, dieses Leute-Schreckens­panorama – das ist Thalheimer­s Dialektik. Sie überzeugt einmal mehr: des Regisseurs Mischung von präziser Psychologi­e und pantomimis­chen Piktogramm­en. Ein Abend der grausamen Grobzeichn­ung wie der ebenso grausamen Feinskizze – nicht: eines trotz des anderen, sondern eines im anderen. Ja, mit der Knochensäg­e ans Stück, und dessen Seele schreit.

Das Tödliche an einem schlimmen Leben besteht darin, nicht rechtzeiti­g gestorben zu sein – so klemmt Blanche ganz unten in der Ecke des schrägen, engen Kerkers, und in einer rotzigsamt­enen Wiederholu­ngsschleif­e, bis lange ins Dunkel dieses Schlussbil­des hinein, röhrt Stanley: »Ist doch gut! Ist doch alles gut!« Es tut weh.

Masken retten die Welt. Mit ihnen lügen wir Freundlich­keit, wo wir doch zuschlagen möchten.

Nächste Vorstellun­gen: 30. April, 1., 11., 12. Mai

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Foto: Matthias Horn
 ?? Foto: Matthias Horn ?? Eine Aus-Flucht-Tragödie im Stahlharte­n und Sargfinste­ren: Sina Martens (Stella), Cordelia Wege (Blanche) und Henning Vogt (Steve)
Foto: Matthias Horn Eine Aus-Flucht-Tragödie im Stahlharte­n und Sargfinste­ren: Sina Martens (Stella), Cordelia Wege (Blanche) und Henning Vogt (Steve)

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