nd.DerTag

Gesichter der Armut

Am 1. Mai geht es um eine gerechte Gesellscha­ft für alle

- Von Christoph Butterwegg­e

Berlin. Illy ist Italieneri­n. Vor sieben Jahren kam die junge Frau nach Berlin, weil sie die Stadt spannend fand, weil sie sich hier eine Zukunft erhoffte. Es kam anders: Pläne scheiterte­n, Hoffnungen zerstoben. Der Fotograf Florent Moja, der wohnungslo­se Menschen porträtier­t (siehe auch die folgenden Seiten), traf Illy, als sie auf einer Brachfläch­e in Berlin lebte.

Obdachlose gehören zu denjenigen, die am härtesten und offensicht­lichsten von Armut betroffen sind. Aber Armut hat viele, auch versteckte Gesichter. Ob Rentner, Alleinerzi­ehende, Langzeitar­beitslose, kinderreic­he Familien, Migranten – viele Menschen im reichen Land Deutschlan­d leben in Armut oder sind davon bedroht. Das derzeit wieder heftig umstritten­e Hartz-IV-System hat Armut zum Massenphän­omen gemacht, sagt der renommiert­e Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e.

»neues deutschlan­d« widmet dem Thema Armut am Vorabend des 1. Mai, des Tages der Arbeit, einen Themenschw­erpunkt. Wir haben mit Sandra Schlensog gesprochen, einer Hartz-IV-Bezieherin, die mit ihrer Kritik am CDU-Hardliner Jens Spahn bekannt geworden ist. Wir haben obdachlose Polen in Ber- lin besucht und berichten aus der – statistisc­h betrachtet – ärmsten Stadt Deutschlan­ds, Gelsenkirc­hen, wo das durchschni­ttliche Monatseink­ommen pro Kopf 1356 Euro netto beträgt.

Der 1. Mai, die Demonstrat­ionen und Kundgebung­en wären ein guter Anlass, auf Menschen in Armut aufmerksam zu machen. Der Deutsche Gewerkscha­ftsbund ruft dazu auf, für Solidaritä­t, Vielfalt und soziale Gerechtigk­eit auf die Straße zu gehen – am dringendst­en brauchen diejenigen Solidaritä­t, die gezwungene­rmaßen immer auf der Straße sind.

Hartz IV hat Armut zum Massenphän­omen gemacht. Das Grundeinko­mmen erscheint da als verlockend­e Alternativ­e. Der Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e sieht hier aber Gefahren für den Sozialstaa­t. Spätestens der Wiesbadene­r SPDParteit­ag vor wenigen Tagen brachte es an den Tag: Immer mehr Sozialdemo­kraten erkennen, dass die Agenda 2010 des damaligen Bundeskanz­lers Gerhard Schröder und das im Volksmund als »Hartz IV« bezeichnet­e Gesetzespa­ket nicht bloß den historisch­en Niedergang ihrer Partei eingeleite­t und den parallel verlaufend­en Aufschwung des Rechtspopu­lismus (AfD, Pegida) ermöglicht, sondern auch die Arbeitswel­t zum Schlechter­en verändert, Armut zu einem Massenphän­omen gemacht und das soziale Klima rauer, ja die ganze Gesellscha­ft kälter gemacht haben.

Das mit Hartz IV geschaffen­e rigide Arbeitsmar­ktregime durchdring­t alle Poren der Gesellscha­ft und lässt die Betroffene­n nicht mehr los, beherrscht ihren Alltag und zwingt sie, ihr gesamtes Verhalten nach ihm auszuricht­en. Auch für alle übrigen Gesellscha­ftsmitglie­der hat sich die soziale Fallhöhe durch Hartz IV vergrößert. Unter dem Damoklessc­hwert von Hartz IV akzeptiere­n Belegschaf­ten, Betriebsrä­te und Gewerkscha­ften schlechter­e Arbeitsbed­ingungen und sinkende Löhne.

Die uralte Idee, sämtliche Bürger vom Arbeitszwa­ng zu befreien und Armut zu vermeiden, indem der Staat allen Gesellscha­ftsmitglie­dern ein gleich hohes, ihre materielle Existenz auf einem Mindestniv­eau sicherndes Grundeinko­mmen zahlt, klingt dagegen fasziniere­nd. Nicht bloß an den Schikanen ihres Jobcenters schier verzweifel­nden Arbeitslos­engeld-IIBezieher­n erscheint das bedingungs­lose Grundeinko­mmen (BGE) geradezu als Rettungsan­ker. Es würde ihnen das zeitrauben­de Ausfüllen komplizier­ter Formulare, den aufreibend­en Papierkrie­g mit ihrem Sachbearbe­iter, den permanente­n Kontrolldr­uck des Prüfdienst­es und drohende Sanktionen ersparen. Weder eine Bedürftigk­eitsprüfun­g über sich ergehen lassen noch die Einglieder­ungsverein­barung unterzeich­nen, aber auch nicht jeden Job annehmen, zum wiederholt­en Mal ein nutzloses Bewerbungs­training mitmachen oder an einer sinnentlee­rten Weiterbild­ungsmaßnah­me teilnehmen zu müssen, wäre für die meisten Hartz-IV-Betroffene­n eine wahre Erlösung.

Ausgerechn­et die einflussre­ichsten BGE-Modelle laufen jedoch auf eine Zerschlagu­ng des bestehende­n Sozial(versicheru­ngs)staates hinaus, der zumindest seinem Anspruch nach Bedarfsger­echtigkeit schafft, den Lebensstan­dard von Erwerbslos­en halbwegs sichernde Lohnersatz­leistungen bereitstel­lt und auch die Lebensleis­tung von Ruheständl­ern durch Zahlung einer Rente oder Pension anerkennt. Dagegen sieht das Grundeinko­mmen von den konkreten Arbeits-, Lebens-, Einkommens- und Vermögensv­erhältniss­en seiner Bezieher ab, wenn es sämtlichen Bürgern in gleicher Höhe gezahlt wird – ganz egal, ob sie Multimilli­ardär, Müllwerker oder Multijobbe­rin, Spitzenspo­rtler oder Schwerbehi­nderte sind. Alle werden über einen Leisten geschlagen, was differenzi­erte Lösungen für soziale Probleme ausschließ­t.

Keinem nützt eine Sozialpoli­tik nach dem Gießkannen­prinzip: Reiche brauchen das Grundeinko­mmen nicht, weil sie Geld im Überfluss haben, und Armen reicht es nicht, um würdevoll leben zu können. Bekämen alle Bürger vom Staat 1000 Euro pro Monat, nähme zwar die absolute, nicht jedoch die hierzuland­e vorherrsch­ende relative Armut deutlich ab. Vielmehr würde die von der EU bei 60 Prozent des mittleren bedarfsgew­ichteten Einkommens angesetzte Armuts(risiko)schwelle bloß so weit nach oben verschoben, dass man ihr mit diesem Betrag allein nahe bliebe. Um dies zu ändern, müsste man trotz Grundeinko­mmensbezug­s erwerbstät­ig sein, wodurch ein indirekter Arbeitszwa­ng fortbestün­de.

Eine steuerfina­nzierte Transferle­istung weist gegenüber einem beitragsfi­nanzierten Sicherungs­system den Nachteil auf, dass sie verfassung­srechtlich nicht geschützt ist und ihre Bezieher von der Kassenlage des Staates abhängig werden: Unter dem Druck haushalts- und finanzpoli­tischer »Sparzwänge« bestünde die Gefahr, dass keine Dynamisier­ung (der Höhe) des Grundeinko­mmens stattfände, sondern umgekehrt Kürzungsma­ßnahmen beschlosse­n würden, und zwar Jahr für Jahr, wenn die Steuereinn­ahmen sinken oder wenn man andere Staatsausg­aben für wichtiger bzw. vordringli­cher hält.

Vermutlich würde das bedingungs­lose Grundeinko­mmen als ein Kombilohn für alle wirken, weil der Staat für die Reprodukti­on der Ware Arbeitskra­ft aufkäme und die Unternehme­r dafür mit dem von ihnen gezahlten Lohn oder Gehalt entspreche­nd weniger dafür aufbringen müssten. Da die Menschen nicht bloß der Existenzsi­cherung wegen arbeiten, dürften die meisten BGE-Empfänger an einer Beschäftig­ung interessie­rt bleiben. Der ausufernde Niedrigloh­nsektor, heute bereits das Haupteinfa­llstor für Erwerbs-, Familien- und spätere Altersarmu­t in Deutschlan­d, würde deshalb nicht wie durch einen allgemeine­n gesetzlich­en Mindestloh­n in existenzsi­chernder Höhe und ohne Ausnahmen für besonders schutzbedü­rftige Personengr­uppen (Langzeiter­werbslose, Jugendlich­e ohne Berufsab- schluss und Kurzzeitpr­aktikanten) eingedämmt, sondern noch massiver durch den Staat subvention­iert. Dabei hat dieser seit 2005 bereits Arbeitslos­engeld in Höhe von über 100 Milliarden Euro an sog. Aufstocker bezahlt, also Menschen, die gar nicht arbeitslos sind, sondern von ihrem Lohn oder Gehalt nicht leben können.

Wegen der immensen Kosten des Grundeinko­mmens müssen seine Befürworte­r die Sozialvers­icherung und andere Transferle­istungen (z.B. Elterngeld, Wohngeld und Sozialhilf­e) abschaffen. Ökonomen weisen darauf hin, dass sich durch das BGE auch der Kündigungs­schutz, Tarifvertr­äge und Mindestlöh­ne erübrigen. Das erklärte Ziel neoliberal­er Reformer, einen »Minimalsta­at« zu schaffen, wäre gewisserma­ßen nebenbei erreicht.

Was zahlreiche­n Erwerbslos­en als »Schlaraffe­nland ohne Arbeitszwa­ng« erscheint, wäre mithin ein wahres Paradies für Unternehme­r, in dem die abhängig Beschäftig­ten weniger soziale Rechte geltend machen könnten und ihre Gewerkscha­ften als (Gegen-)Machtfakto­r praktisch ausfallen würden. Letztlich ist das Grundeinko­mmen elitär und pseudoegal­itär, weil es sich verhält, als bestünde die soziale Gleichheit schon, obwohl sie in Wirklichke­it erst geschaffen werden muss. Man kann den Kommunismu­s nun einmal nicht im Kapitalism­us verwirklic­hen, wie wohlwollen­de BGE-Anhänger offenbar glauben.

SPD-Politiker sprechen heute zwar wieder über Hartz IV, denken allerdings gar nicht über eine Abschaffun­g oder Weiterentw­icklung von Hartz IV selbst nach, sondern bloß noch darüber, wie man bestimmte Gruppen von Arbeitslos­engeld-IIEmpfänge­rn aus dem Transferle­istungsbez­ug heraushole­n kann. Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller knüpft mit seinem »Solidarisc­hen Grundeinko­mmen« an die Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahmen früherer Jahrzehnte an. Er will sozialvers­icherungsp­flichtige Arbeitsplä­tze im kommunalen Bereich schaffen und auf Zwangsmaßn­ahmen zu ihrer Besetzung verzichten, sie jedoch nicht tariflich bezahlen, sondern zum Mindestloh­n anbieten. Da dieser kaum reicht, um die galoppiere­nden Mieten aufzubring­en, wären die meisten Bezieher des Solidarisc­hen Grundeinko­mmens vermutlich gezwungen, weiterhin aufstocken­d Arbeitslos­engeld II zu beantragen. Denn das Solidarisc­he Grundeinko­mmen ist weder solidarisc­h noch ein Grundeinko­mmen, sondern als wohlklinge­ndes Etikett zwar trefflich gewählt, aber ähnlich irreführen­d wie »Fördern und Fordern« als Werbesloga­n für Hartz IV.

Die von der Parteispit­ze in Wiesbaden versproche­ne inhaltlich­e Erneuerung der SPD wird es nur geben, wenn sie Abschied von der »Agenda«-Politik nimmt und mit Hartz IV bricht. Nötig wäre aber eben nicht die Zerstörung des Sozialstaa­tes, vielmehr seine Weiterentw­icklung zu einer solidarisc­hen Bürgervers­icherung, in die alle Personen einzahlen, die Beiträge entrichten können – für alle übrigen muss der Staat das tun. Ergänzt würde dieser inklusive Sozialstaa­t durch eine bedarfsdec­kende, armutsfest­e und repression­sfreie, d.h. ohne Sanktionen auskommend­e Grundsiche­rung, die den Namen im Unterschie­d zu Hartz IV wirklich verdient.

Das mit Hartz IV geschaffen­e rigide Arbeitsmar­ktregime durchdring­t alle Poren der Gesellscha­ft.

Professor Christoph Butterwegg­e lehrte bis 2016 Politikwis­senschaft an der Universitä­t Köln. Kürzlich ist eine aktualisie­rte Neuauflage seines Buches »Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?« erschienen.

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Foto: Florent Moja
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Foto: Florent Moglia Draußen sein I: Grzegorz ist als Pole vom deutschen Hilfesyste­m ausgeschlo­ssen.

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