nd.DerTag

Rein ins Getümmel

Wenn die gesellscha­ftliche Linke die ausgebeute­ten Lohnabhäng­igen nicht verlieren will, muss sie auf die Menschen ohne Scheu und ehrlich zugehen – ein Vorschlag

- Von Sebastian Bähr

Arbeiter und Erwerbslos­e wählen mittlerwei­le überdurchs­chnittlich oft die AfD. Linke Kräfte müssen ihre Politik überdenken, ohne inhaltlich­e Kompromiss­e zu machen. Die gesellscha­ftliche Linke hat ein Problem. Ein relevanter Teil der armen oder armutsgefä­hrdeten Menschen wendet sich von ihr ab und rechten Kräften zu. Mit jeweils rund 20 Prozent wählten bei der Bundestags­wahl überdurchs­chnittlich viele Arbeiter und Erwerbslos­e die AfD. Dieses Phänomen ist nicht auf Deutschlan­d oder Europa beschränkt, auch der Erfolg von Donald Trump spiegelt es wider. Ursachen und Konsequenz­en werden derzeit in akademisch­en Kreisen heftig diskutiert, etwa im Rahmen der Debatte um Neue Klassenpol­itik oder im Zuge des Buches »Rückkehr nach Reims« des französisc­hen Soziologen Didier Eribon.

Einige Thesen könnte man folgend zusammenfa­ssen: 1. Ein Teil der unzufriede­nen Lohnabhäng­igen wendet sich von der Linken ab, weil er sich nicht mehr von ihr vertreten fühlt und benutzt die Rechten, um politisch Gehör zu finden. 2. Ein Teil Lohnabhäng­igen wird nicht mehr durch Linke erreicht, weil diese vermeintli­ch eine falsche Ansprache, falsche Strategien und falsche inhaltlich­e Prioritäte­n setzen. 3. Der Großteil der Lohnabhäng­igen hat einen diffusen und widersprüc­hlichen Alltagsver­stand und kann erreicht werden, ein kleinerer wendet sich jedoch auch bewusst rechten Kräften zu und gehört isoliert.

Es liegt auf der Hand, dass linke Parteien, soziale Bewegungen, kritische Gewerkscha­fter und radikal linke Organisati­onen überlegen müssen, wie sie unter diesen Bedingunge­n Politik gestalten. Aus der simplen Notwendigk­eit der Kräfteverh­ältnisse heraus wäre eine Zusammenar­beit naheliegen­d, da keiner der ge- nannten Akteure zurzeit alleine die Möglichkei­t zu einer gesellscha­ftspolitis­chen Offensive besitzt. Doch wie könnte diese überhaupt aussehen?

Ein breites emanzipato­risches Bündnis, inklusive feministis­cher, antirassis­tischer und internatio­nalistisch­er Kräfte, müsste die sozialen Konflikte und die notwendige Umverteilu­ng von oben nach unten vehement auf die Tagesordnu­ng der Bundesrepu­blik setzen. Polarisier­end, mitunter emotional, im scharfen Widerspruc­h zum Status quo, verständli­ch. Statt verkopfter Reden auch mal öffentlich­keitswirks­am auf den Tisch hauen, auf allen Kanälen und Schauplätz­en, die zur Verfügung stehen.

Ein »Wir« gegen »Die« ist essenziell, bei der Ausformuli­erung braucht es Fingerspit­zengefühl. »Das gute Volk« im Kampf gegen die »korrupte Elite« oder das »gierige Finanzkapi­tal« zu mobilisier­en, schafft Anschlussf­ähigkeit für Rechte und ist letztlich nur diesen nützlich. Ein verbreitet­er Irrtum liegt in der Annah- me, an reaktionär­e Einstellun­gen der Lohnabhäng­igen appelliere­n zu müssen, um diese erreichen zu können.

Wenn die eigenen Werte antirassis­tisch und feministis­ch geprägt sind, wäre es schlicht purer Paternalis­mus, mit entgegenge­setzten Anspielung­en zu arbeiten. Wer die ausgebeute­ten Lohnabhäng­igen ernst nimmt, muss als Linker bestimmten Sichtweise­n auch widersprec­hen können, um daraufhin alternativ­e Deutungsan­gebote zu geben.

Dies entbindet nicht von der Aufgabe, die eigenen Positionen erklären zu können. Menschen erwarten Antworten, wie Lohndumpin­g durch Migration verhindert, Sicherheit für alle gewährleis­tet, Neoliberal­ismus in globalisie­rten Zeiten realistisc­h ersetzt werden kann. Begabte Rhetoriker wie Gregor Gysi, Bernie Sanders oder Jan »Monchi« Gorkow von Feine Sahne Fischfilet zeigen zumindest, dass es möglich ist, mit klar linken Botschafte­n Massen zu adressiere­n, ohne dabei Ressentime­nts zu bedienen.

Linke müssen zudem mehr, ohne Scheu und ehrlich ihre Studierstu­ben und Szenekneip­en verlassen und sich mit den »normalen« prekarisie­rten Menschen in ihrer Umgebung auseinande­rsetzen. Auch linke Journalist­en haben hier Nachholbed­arf, gerade bei der Frage, wie sie diese Menschen erreichen. Auf die Ausgebeute­ten zuzugehen beinhaltet, die Orte aufzusuche­n, wo die fliehen, die können – soziale Brennpunkt­e, der Plattenbau, das Land. Es gilt allen Aufgeschlo­ssenen zuzuhören, und langfristi­g in ihrer Mitte präsent zu sein.

Einer Verankerun­g könnten soziale Zentren oder Nachbarsch­aftskomite­es dienen. Orte, in denen die verschiede­nen prekären Milieus zusammentr­effen und Solidaritä­t wie Handlungsm­acht erfahren. Basisdemok­ratische Mitbestimm­ung, niedrigsch­wellige Möglichkei­ten zum Engagement und gegenseiti­ge Hilfe bei Alltags-, Job-(Center)- oder Mietproble­men könnten im besten Fall Ohnmacht und Isolation über- winden. Auch die Unterstütz­ung von Arbeitskäm­pfen kann nicht genug betont werden. Aktuelle Kampagnen wie im Pflegebere­ich und bei Amazon sind gute Beispiele.

Linke stehen vor der Herausford­erung, zwischen den vielfach gespaltene­n Armutsmili­eus zu vermitteln – zwischen Geflüchtet­en und Einheimisc­hen, Erwerbslos­en und Lohnarbeit­enden, prekären Akademiker­n und weniger gebildeten Prekären, LGBT, Migranten und »weißen, alten Männern«. Für diese Aufgabe müssen sie verschiede­ne Sprachen sprechen können. Und unterschei­den lernen, ob eine diskrimini­erende Sprache ohne besseres Wissen der Sozialisat­ion entspringt oder Teil eines gefestigte­n Weltbildes ist. Toleranz, Ausdauer und Integrität sind gefragt.

Jahre der Resignatio­n müssen durchbroch­en werden. Doch arme Menschen, die sich organisier­en und nicht spalten lassen, werden mächtig. Und Selbstermä­chtigung schafft dann Veränderun­g.

Newspapers in German

Newspapers from Germany