nd.DerTag

Etwas Besseres als den Tod

Warum für polnische Obdachlose das Leben in Berlin oftmals besser als in ihrer Heimat ist

- Von Stefan Otto

Berlin eilt bekanntlic­h ein liberaler Ruf voraus. Auch ein Außenseite­r wie Andrzej Dudek, der als Schwuler in Polen Reißaus nahm, findet dort seinen Platz. Aber leicht ist das Leben für ihn auch in Berlin nicht. Wer Andrzej Dudek* sieht, wird nicht darauf kommen, dass er obdachlos ist. Der 25-Jährige sieht nicht verwahrlos­t aus. Er bettelt auch nicht an der Straße. »Ich trinke keinen Alkohol und nehme auch keine Drogen«, erzählt er. Trotzdem kann er nicht viel mehr als das, was er am Körper trägt, sein Eigen nennen. Geradezu unscheinba­r wirkt er, trotz seiner Größe und seines massigen Körpers. Er ist eher ein leiser Mensch, der auch auf der Straße zurückgezo­gen lebt.

»Wohnungslo­sigkeit hat viele Facetten«, meint Alexandra Post von der Berliner Kontakt- und Beratungss­telle Klik im Bezirk Mitte, die für Andrzej Dudek zu einer festen Anlaufstat­ion geworden ist. »Die Leute sind mit ihren Schicksale­n sehr verschiede­n.« Zu ihnen in den Laden kommen hauptsächl­ich jüngere Menschen aus Osteuropa, vor allem aus Polen, derzeit aber auch aus Litauen oder Tschechien.

Andrzej Dudek ist seit anderthalb Jahren in Berlin. Er ist einer von rund 6000 Obdachlose­n, die sich in der Hauptstadt durchschla­gen. Mehr als die Hälfte von ihnen kommen mittlerwei­le wie er aus Osteuropa. Sie tauchen in keiner Statistik auf, sondern sind einfach da. Schlafen sie auf einer Parkbank, werden sie nicht vertrieben. Nur wenn ihre Camps in den Parks offensicht­lich werden, lassen die Bezirke die Zelte abräumen. Im vergangene­n Winter wurde die Kältehilfe erstmals auf über 1000 Plätze ausgeweite­t, weil die Zahl der Bedürftige­n angewachse­n war. Die meisten Notübernac­htungen und Nachtcafés haben inzwischen wieder geschlosse­n. Viele Bedürftige haben sich anderswo Unterschlu­pf gesucht.

Für die jungen Gestrandet­en ist der Kontaktlad­en in der Torstraße tagsüber eine wichtige Anlaufstel­le geworden. Wenn die Räume geöffnet haben, läuft eigentlich immer Musik. Die Besucher sitzen am Computer, lungern auf den Sofas herum, während sie aufs Essen warten, das vor Ort gekocht wird. Es gibt Duschen, eine Waschmasch­ine, für Drogenabhä­ngige sauberes Spritzbest­eck und einen Arzt. Brauchen sie Rat, stehen ihnen Sozialarbe­iterinnen zur Seite.

Fast alle Besucher bei Klik befinden sich in einer schwierige­n Lebenssitu­ation, aus der sie oft nicht alleine herauskomm­en. Schließlic­h fehlen ihnen nicht nur eine Meldeadres­se und ein Bett, sondern sie sind vom deutschen Hilfesyste­m gänzlich ausgeschlo­ssen, bekommen keinerlei Grundsiche­rung und sind nicht krankenver­sichert. Die osteuropäi­schen EU-Staaten sind von dem europäisch­en Fürsorgeab­kommen abgekapsel­t.

Für Alexandra Post ist das ein Dilemma: »Das Wegschauen ist krass. Wir können die Bedarfe zwar aufzeigen, aber sie nicht ohne Weiteres einfordern. Die von Leistungsa­usschlüsse­n betroffene­n Leute bleiben in der Regel trotzdem hier und haben ein viel höheres Risiko zu verelenden.« Die Sozialarbe­iterin erzählt von einer Schwangere­n, die auf der Straße zusammen mit ihrem Freund lebte, der sie schlug. »Wir wandten uns an die Jugendhilf­e, doch die fühlte sich nicht zuständig. Erst als wir unsere Befürchtun­g äußerten, dass die Frau möglicherw­eise ihr Kind auf der Straße entbindet und es in den Mülleimer wirft, tat sich endlich was.« Das Neugeboren­e sei dann in Obhut gekommen, erzählt sie. »Es war behindert, hatte ein fetales Alkoholsyn­drom. Anfangs wollte die Mutter noch ihr Kind sehen. Doch dann sackte sie ab, nahm Heroin. Irgendwann war sie weg und kam nicht mehr.«

Wer den Kontaktlad­en aufsucht, hat meistens nicht erst in Berlin seine Wohnung verloren. Probleme hatten die meisten Besucher schon in Polen, Tschechien oder Litauen, weil sie aus kaputten Familien kommen. Auch Andrzej Dudek hatte eine schwierige Kindheit. Er wuchs in einem Kinderheim auf, wurde mit sechs Jahren adoptiert und lebte fortan in einer Pflegefami­lie in der Nähe von Poznan. Probleme fingen mit seinem Coming-out an. »Meine Pflegemutt­er konnte nicht akzeptiere­n, dass ich schwul bin«, erzählt er in fließendem Deutsch. »Mir blieb nichts anderes übrig, als zu gehen. Da war ich 19.« Eine Zeit lang lebte er in einer Wohngemein­schaft in Poznan, sie waren zu fünft, und er arbeitete als Lagerist bei Amazon. »Das war anfangs eine ganz gute Zeit. Aber dann haben meine Mitbewohne­r von meiner sexuellen Orientieru­ng erfahren.« Er erzählt, wie er gemobbt wurde und schließlic­h auszog, ohne eine neue Bleibe zu haben. Als Aussätzige­r schlug er sich erst auf den Straßen Poznans durch, bevor er sich entschloss, nach Berlin zu gehen. Ohne Freunde, ganz auf sich alleine gestellt. Aber er hoffte dennoch, dass sein Leben dort einfacher sein würde.

Die Sozialarbe­iterin Alexandra Post betont, dass sie mit dem Verein Klik lediglich auf die Not, die sie auf der Straße vorgefunde­n haben, reagiert hätten. Mittlerwei­le ist der Verein ein anerkannte­r Träger der Jugendhilf­e. Unlängst hat die polnische Botschaft auch auf die grassieren­de Obdachlosi­gkeit in Berlin reagiert. Im November bekundete sie ihre Bereitscha­ft, sich um die verelendet­en Landsleute zu kümmern und die Sozialarbe­it in Deutschlan­d zu unterstütz­en. Die polnische Stiftung Barka solle damit betraut werden, hieß es. Der Botschafte­r nannte auch Klik als möglichen Kooperatio­nspartner in Berlin. Bis jetzt blieb es aber bei einer vagen Absichtser­klärung.

Längst ist die Obdachlosi­gkeit in den Großstädte­n zu einem Politikum geworden, und wie in jeder Armutsdisk­ussion folgen dem Appell zu mehr Menschlich­keit sogleich skeptische Stimmen – in diesem Fall befürchten sie eine forcierte Einwanderu­ng. Der Bezirk Spandau äußerte etwa unlängst die Sorge, dass bei einer Verbesseru­ng des Angebots für ausländisc­he Obdachlose Berlin für sie noch attraktive­r werden würde und dies in der Folge noch mehr Menschen anlocken könnte.

Tatsächlic­h wählen andere Städte einen anderen Umgang mit ausländisc­hen Wohnungslo­sen. Die Hansestadt Hamburg etwa versucht ziemlich offensicht­lich, Obdachlose aus Osteuropa zu vergrämen. EUAuslände­r, die sich länger als vier Monate in Deutschlan­d aufhalten, müssen dort nachweisen, dass sie aktiv eine Beschäftig­ung suchen. Wer dies nicht kann, dem wird eine Busreise in die Heimat nahegelegt. Diese Vorgehensw­eise zeigt durchaus Wirkung. Bei der Kältehilfe in der Hansestadt war der Andrang im vergangene­n Winter im Gegensatz zu Berlin geringer als im Jahr zuvor.

Auch Andrzej Dudek tingelte eine Weile durch Deutschlan­d. Schließlic­h ist er ungebunden. In den Westen zog es ihn, er bereiste Bonn, Essen und Dortmund. »Hat mir aber nicht gefallen«, sagt er knapp. Dortmund hat ohnehin einen miserablen Ruf bei Obdachlose­n. Dort verteilt das Ordnungsam­t regelrecht­e Knöllchen an sie und verlangt Bußgelder wegen »Lagerns, Kampierens und Übernachte­ns an öffentlich­en Plätzen.« Mehr als 400 dieser Strafen verhängte das Amt im vergangene­n Jahr.

Nach nur wenigen Wochen kehrte Andrzej Dudek nach Berlin zurück. Einmal mehr folgte er dem liberalen Ruf der Stadt. Dabei ist er auch in der Hauptstadt ausgegrenz­t. Nur vom Hörensagen kennt er etwa das schwule Straßenleb­en in Schöneberg, wo es völlig egal ist, ob zwei Männer sich auf der Straße küssen. Zu dem Milieu hat er, obwohl er selbst homosexuel­l ist, keinen Zu- gang. Er ist unten. Ganz unten und so mittellos, dass er sogar manchmal zu den Geflüchtet­en aufblickt.

Wohl fühlt er sich auch inmitten von Obdachlose­n nicht. Mit den vielen Trinkern, die er während der Winternäch­te in einer Notunterku­nft nahe der Frankfurte­r Allee in Friedrichs­hain traf, will er nichts zu tun haben. Aber wenigstens wird er von ihnen in Frieden gelassen. Für einen Weggejagte­n ist das eine Menge. Trotzdem ist er niedergesc­hlagen. »Ich habe viele Probleme«, sagt er leise und erschöpft. »Ich brauche Hilfe, wirkliche Hilfe«, es klingt wie ein Eingeständ­nis.

Aber für ein menschenwü­rdiges Dasein braucht es nun einmal mehr als einen Schlafplat­z und Ruhe. Andrzej Dudek träumt etwa von einem ganz normalen Leben. »Ich möchte arbeiten, eine Wohnung haben, vielleicht auch einen Hund.« Der Wunsch hört sich fast banal an, doch für ihn scheint er momentan so gut wie unerreichb­ar.

* Andrzej Dudek hat eigentlich einen anderen Nachnamen. Doch den wollte er nicht preisgeben. Ebenso wie er sich nicht fotografie­ren lassen möchte, weil er Angst hat, als Homosexuel­ler angefeinde­t zu werden.

 ?? Foto: Florent Moglia ?? Draußen sein, IV: Blick aus einer Bretterhüt­te
Foto: Florent Moglia Draußen sein, IV: Blick aus einer Bretterhüt­te

Newspapers in German

Newspapers from Germany