nd.DerTag

In der ärmsten Stadt Deutschlan­ds

Der Strukturwa­ndel hat Gelsenkirc­hen hart getroffen. Als Identifika­tionsobjek­t bleibt vielen nur der Fußballver­ein

- Von Sebastian Weiermann

Armut, Migration und Schalke 04 – das sind die Themen, über die berichtet wird, wenn es um Gelsenkirc­hen geht. Sie sind tatsächlic­h omnipräsen­t. Aber Gelsenkirc­hen ist vielseitig­er, als viele denken. »Das ist, was sich hier hält«, sagt Paul Erzkamp im Gelsenkirc­hener Hauptbahnh­of und deutet auf ein Geschäft der Kette »Lecker Lecker«. In den Läden werden hauptsächl­ich Süßwaren zu stark reduzierte­n Preisen verkauft. Schokolade oder Chips mit Geschmacks­richtungen, die sich nicht durchsetze­n konnten, und Ähnliches wird hier für wenig Geld verkauft. Die Markenchip­s für einen Euro, das ist ein Preisnivea­u, das sich die Menschen in Gelsenkirc­hen leisten können. »Viele Menschen treffen sich auch auf den Plätzen um den Bahnhof«, erzählt Erzkamp. Der 35-Jährige ist Landesvors­itzender des sozialisti­schen Jugendverb­andes Falken in Nordrhein-Westfalen. Er kommt aus Gelsenkirc­hen und sieht die Schatten- und Sonnenseit­en seiner Heimatstad­t.

Gelsenkirc­hen kam im Herbst 2017 bundesweit in die Schlagzeil­en. Die Statistisc­hen Landesämte­r hatten eine Erhebung zum Durchschni­ttseinkomm­en in deutschen Städten veröffentl­icht. Den ersten Platz belegte Heilbronn. 35 663 Euro beträgt der Durchschni­ttsverdien­st in der badenwürtt­embergisch­en Stadt. Bundesweit sind es durchschni­ttlich 21 600 Euro. Die Gelsenkirc­hener verdienen im Schnitt lediglich 16 274 Euro. Im Monat sind das 1356 Euro. Bei der Arbeitslos­igkeit belegt Gelsenkirc­hen regelmäßig einen traurigen Spitzenpla­tz. Aktuell beträgt die Quote 13,8 Prozent. Mit diesen Problemen steht Gelsenkirc­hen allerdings nicht alleine da. In den Nachbargem­einden im Ruhrgebiet sieht es nicht viel besser aus.

Um Gelsenkirc­hen und die Armutsvert­eilung in der Stadt verstehen zu können, ist zunächst einmal ein Blick auf eine Landkarte und in die Geschichte der Stadt notwendig. Die südlichen Stadtteile wie Ückendorf und die Alt- und Neustadt liegen im Norden des Ruhrgebiet­s. Sie befinden sich auf einer Linie mit der Dortmunder Nordstadt und Duisburg-Marxloh. Nach Norden dehnt sich Gelsenkirc­hen dann bis zu 14 Kilometer aus. Stadtteile wie Buer und Hassel haben teilweise Ähnlichkei­ten mit dem Münsterlan­d und sind viel weniger von der Großindust­rie geprägt. Fußball-Nationalto­rwart Manuel Neuer, der früher für Schalke spielte und heute beim FC Bayern München unter Vertrag steht, nannte seinen Heimatstad­tteil Buer in einem Interview einmal das »Monaco von Gelsenkirc­hen«. Eine gewachsene Stadt ist das heutige Gelsenkirc­hen nicht. Es handelt sich vielmehr um eine Ansammlung von verschiede­nen Kleinstädt­en, die im Zuge von Gebietsref­ormen zusammenge­führt wurden.

Der südlichste Stadtteil von Gelsenkirc­hen ist Ückendorf. Dort, entlang der Bochumer Straße, findet sich eine ganze Reihe von Gründerzei­thäusern. In vielen Städten wären die hübschen Altbauten wohl frisch saniert und modernisie­rt worden und würden Spitzenmie­ten einbringen. In Ückendorf ist das anders. Leerstand prägt die Straße. Eingänge sind verrammelt, Fenster in Wohnungen fehlen.

Paul Erzkamp erzählt, die Stadt versuche nun, den Stadtteil aufzuwerte­n. Künstler und Kreative bekommen Räumlichke­iten. Die Stadt fördert die Ansiedlung. Schon vor einigen Jahren ist das Justizzent­rum in den Stadtteil gezogen. »Mehr als ein paar Anwaltsbür­os« habe das aber nicht gebracht. Auch der Wissenscha­ftspark ist nicht unbedingt ein Erfolgspro­jekt. Im Jahr 1995 gegründet, sollte er zur Ansiedlung von neuen Unternehme­n führen. »Gelsenkirc­hen wollte eine Zeit lang Solarstadt sein«, erläutert Erzkamp. Ein richtiger Erfolg ist das allerdings nicht geworden. Mehrere Unternehme­n, die sich, zum Teil mit kräftigen staatliche­n Fördergeld­ern, in der Stadt angesiedel­t haben, sind pleitegega­ngen.

Ückendorf und die Neustadt sind verschrien­e Stadtteile. Der Anteil an Migranten ist hier hoch. In den letzten Jahren sind viele Einwandere­r aus Rumänien und Bulgarien hinzugekom­men. Sie leben teilweise unter miserablen Bedingunge­n. Willkommen sind sie nicht allen. Ein älterer türkischer Mann, der vor einem Gemüselade­n steht, schimpft, wenn er nach seinem Viertel gefragt wird. Früher sei es besser gewesen. »Die«, dabei zeigt er auf eine Gruppe spielender Kinder, »wissen nicht, wie man sich benimmt.« Wer die sind? »Zigeuner aus Rumänien«, sagt er und beschwert sich über Müll auf den Straßen und Diebstähle. Ganz einfach ist das Zusammenle­ben hier offensicht­lich nicht.

Paul Erzkamp beschreibt das Miteinande­r in Gelsenkirc­hen so: »Es gibt hier viele kleine Communitys.« Ein syrischer Supermarkt sei dann zum Beispiel ein Treffpunkt für Gelsenkirc­hens Syrer geworden. Durch die kleinräumi­gen Zentren unterschei­det sich Gelsenkirc­hens Süden auch von der Dortmunder Nordstadt oder anderen Ruhrgebiet­sstadtteil­en, die als Problemvie­rtel angesehen werden. In Gelsenkirc­hen sind es immer nur ein paar Meter bis zu einer Ecke, die komplett anders aussieht. Armut ist trotzdem fast überall präsent. Allerdings muss man differenzi­eren. »Die Menschen können hier von Hartz IV leben«, erklärt Erzkamp. Die Lebenshalt­ungskosten sind nämlich günstiger als anderswo. In der Spanne von 300 bis 400 Euro kann man in Ückendorf locker eine Wohnung mit 60 bis 80 Quadratmet­ern mieten. Auch Kioske und kleine Lebensmitt­elgeschäft­e haben sich an die Kaufkraft ihrer Kundschaft angepasst. Ein Bier gibt es hier für 50 Cent.

Was in Gelsenkirc­hen auffällt und was hier auch noch intensiver ist als in anderen Fußballhoc­hburgen, ist der Bezug zum ansässigen Fußballver­ein. Völlig egal, wo man sich in Gelsenkirc­hen aufhält, sieht man einen blau-weißen Aufkleber, eine Fahne oder irgendwen, der ein Kleidungss­tück mit dem Logo vom FC Schalke 04 trägt. Besonders deutlich ist das an der Schalker Meile. An einem Haus sind die Erfolge des Fußballklu­bs aufgezählt und jedes Geschäft, vom Grill-Imbiss bis zur Fahrschule, ist blau-weiß geschmückt.

An der dortigen Straßenbah­n-Haltestell­e steht Ibrahim. Der 22-Jährige trägt eine Jogginghos­e und eine Regenjacke, auf beidem steht das Vereinskür­zel S 04. Ibrahim arbeitet für Schalke. An den Wochenends­pieltagen des Bundesligi­sten steht er als Ordner in der Fankurve und sorgt dafür, dass die Wege halbwegs frei bleiben. Vorher ist er oft als Fan in das Stadion gegangen. »Schalke ist Zusammenha­lt«, erklärt er. »Egal, wo du herkommst, für Schalke steht man zusammen.« Solche und ähnliche Sätze hört man in Gelsenkirc­hen häufig.

Der Verein ist mit seinem modernen Stadion, in dem auch Konzerte und andere Events stattfinde­n, mittlerwei­le ein wichtiger Arbeitgebe­r in de Region. Außerdem sorgt sich der FC Schalke um den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt. »Wenn die mit den Flüchtling­en und den Rumänen weiter dasselbe machen wie mit uns, dann klappt hier alles«, sagt Ibrahim. Er meint damit die zahlreiche­n Projekte vom Verein und Gruppen wie der Faninitiat­ive. Ibrahim erklärt, früher hätten sie sich darum gekümmert, dass »die Türken ins Stadion kommen«. Bei Schalke 04 wurde schon Anfang der 1990er Jahre viel Wert auf antirassis­tische Fanarbeit gelegt. Die Ergebnisse davon sind heute zu sehen. In kaum einem Fanblock der Bundesligi­sten in ganz Deutschlan­d stehen so viele Migranten wie in dem der Schalker. Als Beleidigun­gen gedachte Bezeichnun­gen wie »Ruhrpottka­nacken« greifen die Fans regelmäßig ironisch auf.

Der Fußball ist das Bindeglied in Gelsenkirc­hen. Ohne ihn wäre die Stadt sehr trist. Dagegen kann Gelsenkirc­hen selbst nicht sonderlich viel machen. Die Stadt steht unter Haushaltsa­ufsicht der Bezirksreg­ierung. Der aktuelle Haushalt ist schuldenfr­ei. Das ist eine Bedingung, um am kommunalen »Stärkungsp­akt« des Landes teilzuhabe­n. Um Perspektiv­en für Arbeitslos­e zu schaffen, setzt die Stadt auf den sozialen Arbeitsmar­kt.

Am Donnerstag war Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil von der SPD in Gelsenkirc­hen zu Besuch. Er verspricht bundesweit vier Milliarden Euro für öffentlich geförderte Stellen. Gelsenkirc­hens Oberbürger­meister Frank Baranowski, der ebenfalls Sozialdemo­krat ist, hofft, dass auf Gelsenkirc­hen genug Geld für 1500 geförderte Stellen abfällt. Im Gelsenkirc­hener Appell hat man in den letzten Jahren genug Einsatzmög­lichkeiten erdacht und auch schon einigen Langzeitar­beitslosen Jobs geben können.

Der soziale Arbeitsmar­kt ist eine Perspektiv­e für einige Menschen in Gelsenkirc­hen. Mit ihm sollen auch die jahrelange­n »Maßnahmen-Karierren« von Erwerbslos­en gestoppt werden. Doch die vielseitig­en Probleme der Stadt können dadurch nicht alle gelöst werden. Paul Erzkamp zumindest sagt, die Verhältnis­se in Gelsenkirc­hen könnten sich nur ändern, wenn man grundlegen­d die »Verteilung­sfrage« stellt.

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Foto: Florent Moglia Draußen sein VI: Reise nach Italien

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