In der ärmsten Stadt Deutschlands
Der Strukturwandel hat Gelsenkirchen hart getroffen. Als Identifikationsobjekt bleibt vielen nur der Fußballverein
Armut, Migration und Schalke 04 – das sind die Themen, über die berichtet wird, wenn es um Gelsenkirchen geht. Sie sind tatsächlich omnipräsent. Aber Gelsenkirchen ist vielseitiger, als viele denken. »Das ist, was sich hier hält«, sagt Paul Erzkamp im Gelsenkirchener Hauptbahnhof und deutet auf ein Geschäft der Kette »Lecker Lecker«. In den Läden werden hauptsächlich Süßwaren zu stark reduzierten Preisen verkauft. Schokolade oder Chips mit Geschmacksrichtungen, die sich nicht durchsetzen konnten, und Ähnliches wird hier für wenig Geld verkauft. Die Markenchips für einen Euro, das ist ein Preisniveau, das sich die Menschen in Gelsenkirchen leisten können. »Viele Menschen treffen sich auch auf den Plätzen um den Bahnhof«, erzählt Erzkamp. Der 35-Jährige ist Landesvorsitzender des sozialistischen Jugendverbandes Falken in Nordrhein-Westfalen. Er kommt aus Gelsenkirchen und sieht die Schatten- und Sonnenseiten seiner Heimatstadt.
Gelsenkirchen kam im Herbst 2017 bundesweit in die Schlagzeilen. Die Statistischen Landesämter hatten eine Erhebung zum Durchschnittseinkommen in deutschen Städten veröffentlicht. Den ersten Platz belegte Heilbronn. 35 663 Euro beträgt der Durchschnittsverdienst in der badenwürttembergischen Stadt. Bundesweit sind es durchschnittlich 21 600 Euro. Die Gelsenkirchener verdienen im Schnitt lediglich 16 274 Euro. Im Monat sind das 1356 Euro. Bei der Arbeitslosigkeit belegt Gelsenkirchen regelmäßig einen traurigen Spitzenplatz. Aktuell beträgt die Quote 13,8 Prozent. Mit diesen Problemen steht Gelsenkirchen allerdings nicht alleine da. In den Nachbargemeinden im Ruhrgebiet sieht es nicht viel besser aus.
Um Gelsenkirchen und die Armutsverteilung in der Stadt verstehen zu können, ist zunächst einmal ein Blick auf eine Landkarte und in die Geschichte der Stadt notwendig. Die südlichen Stadtteile wie Ückendorf und die Alt- und Neustadt liegen im Norden des Ruhrgebiets. Sie befinden sich auf einer Linie mit der Dortmunder Nordstadt und Duisburg-Marxloh. Nach Norden dehnt sich Gelsenkirchen dann bis zu 14 Kilometer aus. Stadtteile wie Buer und Hassel haben teilweise Ähnlichkeiten mit dem Münsterland und sind viel weniger von der Großindustrie geprägt. Fußball-Nationaltorwart Manuel Neuer, der früher für Schalke spielte und heute beim FC Bayern München unter Vertrag steht, nannte seinen Heimatstadtteil Buer in einem Interview einmal das »Monaco von Gelsenkirchen«. Eine gewachsene Stadt ist das heutige Gelsenkirchen nicht. Es handelt sich vielmehr um eine Ansammlung von verschiedenen Kleinstädten, die im Zuge von Gebietsreformen zusammengeführt wurden.
Der südlichste Stadtteil von Gelsenkirchen ist Ückendorf. Dort, entlang der Bochumer Straße, findet sich eine ganze Reihe von Gründerzeithäusern. In vielen Städten wären die hübschen Altbauten wohl frisch saniert und modernisiert worden und würden Spitzenmieten einbringen. In Ückendorf ist das anders. Leerstand prägt die Straße. Eingänge sind verrammelt, Fenster in Wohnungen fehlen.
Paul Erzkamp erzählt, die Stadt versuche nun, den Stadtteil aufzuwerten. Künstler und Kreative bekommen Räumlichkeiten. Die Stadt fördert die Ansiedlung. Schon vor einigen Jahren ist das Justizzentrum in den Stadtteil gezogen. »Mehr als ein paar Anwaltsbüros« habe das aber nicht gebracht. Auch der Wissenschaftspark ist nicht unbedingt ein Erfolgsprojekt. Im Jahr 1995 gegründet, sollte er zur Ansiedlung von neuen Unternehmen führen. »Gelsenkirchen wollte eine Zeit lang Solarstadt sein«, erläutert Erzkamp. Ein richtiger Erfolg ist das allerdings nicht geworden. Mehrere Unternehmen, die sich, zum Teil mit kräftigen staatlichen Fördergeldern, in der Stadt angesiedelt haben, sind pleitegegangen.
Ückendorf und die Neustadt sind verschriene Stadtteile. Der Anteil an Migranten ist hier hoch. In den letzten Jahren sind viele Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien hinzugekommen. Sie leben teilweise unter miserablen Bedingungen. Willkommen sind sie nicht allen. Ein älterer türkischer Mann, der vor einem Gemüseladen steht, schimpft, wenn er nach seinem Viertel gefragt wird. Früher sei es besser gewesen. »Die«, dabei zeigt er auf eine Gruppe spielender Kinder, »wissen nicht, wie man sich benimmt.« Wer die sind? »Zigeuner aus Rumänien«, sagt er und beschwert sich über Müll auf den Straßen und Diebstähle. Ganz einfach ist das Zusammenleben hier offensichtlich nicht.
Paul Erzkamp beschreibt das Miteinander in Gelsenkirchen so: »Es gibt hier viele kleine Communitys.« Ein syrischer Supermarkt sei dann zum Beispiel ein Treffpunkt für Gelsenkirchens Syrer geworden. Durch die kleinräumigen Zentren unterscheidet sich Gelsenkirchens Süden auch von der Dortmunder Nordstadt oder anderen Ruhrgebietsstadtteilen, die als Problemviertel angesehen werden. In Gelsenkirchen sind es immer nur ein paar Meter bis zu einer Ecke, die komplett anders aussieht. Armut ist trotzdem fast überall präsent. Allerdings muss man differenzieren. »Die Menschen können hier von Hartz IV leben«, erklärt Erzkamp. Die Lebenshaltungskosten sind nämlich günstiger als anderswo. In der Spanne von 300 bis 400 Euro kann man in Ückendorf locker eine Wohnung mit 60 bis 80 Quadratmetern mieten. Auch Kioske und kleine Lebensmittelgeschäfte haben sich an die Kaufkraft ihrer Kundschaft angepasst. Ein Bier gibt es hier für 50 Cent.
Was in Gelsenkirchen auffällt und was hier auch noch intensiver ist als in anderen Fußballhochburgen, ist der Bezug zum ansässigen Fußballverein. Völlig egal, wo man sich in Gelsenkirchen aufhält, sieht man einen blau-weißen Aufkleber, eine Fahne oder irgendwen, der ein Kleidungsstück mit dem Logo vom FC Schalke 04 trägt. Besonders deutlich ist das an der Schalker Meile. An einem Haus sind die Erfolge des Fußballklubs aufgezählt und jedes Geschäft, vom Grill-Imbiss bis zur Fahrschule, ist blau-weiß geschmückt.
An der dortigen Straßenbahn-Haltestelle steht Ibrahim. Der 22-Jährige trägt eine Jogginghose und eine Regenjacke, auf beidem steht das Vereinskürzel S 04. Ibrahim arbeitet für Schalke. An den Wochenendspieltagen des Bundesligisten steht er als Ordner in der Fankurve und sorgt dafür, dass die Wege halbwegs frei bleiben. Vorher ist er oft als Fan in das Stadion gegangen. »Schalke ist Zusammenhalt«, erklärt er. »Egal, wo du herkommst, für Schalke steht man zusammen.« Solche und ähnliche Sätze hört man in Gelsenkirchen häufig.
Der Verein ist mit seinem modernen Stadion, in dem auch Konzerte und andere Events stattfinden, mittlerweile ein wichtiger Arbeitgeber in de Region. Außerdem sorgt sich der FC Schalke um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. »Wenn die mit den Flüchtlingen und den Rumänen weiter dasselbe machen wie mit uns, dann klappt hier alles«, sagt Ibrahim. Er meint damit die zahlreichen Projekte vom Verein und Gruppen wie der Faninitiative. Ibrahim erklärt, früher hätten sie sich darum gekümmert, dass »die Türken ins Stadion kommen«. Bei Schalke 04 wurde schon Anfang der 1990er Jahre viel Wert auf antirassistische Fanarbeit gelegt. Die Ergebnisse davon sind heute zu sehen. In kaum einem Fanblock der Bundesligisten in ganz Deutschland stehen so viele Migranten wie in dem der Schalker. Als Beleidigungen gedachte Bezeichnungen wie »Ruhrpottkanacken« greifen die Fans regelmäßig ironisch auf.
Der Fußball ist das Bindeglied in Gelsenkirchen. Ohne ihn wäre die Stadt sehr trist. Dagegen kann Gelsenkirchen selbst nicht sonderlich viel machen. Die Stadt steht unter Haushaltsaufsicht der Bezirksregierung. Der aktuelle Haushalt ist schuldenfrei. Das ist eine Bedingung, um am kommunalen »Stärkungspakt« des Landes teilzuhaben. Um Perspektiven für Arbeitslose zu schaffen, setzt die Stadt auf den sozialen Arbeitsmarkt.
Am Donnerstag war Bundesarbeitsminister Hubertus Heil von der SPD in Gelsenkirchen zu Besuch. Er verspricht bundesweit vier Milliarden Euro für öffentlich geförderte Stellen. Gelsenkirchens Oberbürgermeister Frank Baranowski, der ebenfalls Sozialdemokrat ist, hofft, dass auf Gelsenkirchen genug Geld für 1500 geförderte Stellen abfällt. Im Gelsenkirchener Appell hat man in den letzten Jahren genug Einsatzmöglichkeiten erdacht und auch schon einigen Langzeitarbeitslosen Jobs geben können.
Der soziale Arbeitsmarkt ist eine Perspektive für einige Menschen in Gelsenkirchen. Mit ihm sollen auch die jahrelangen »Maßnahmen-Karierren« von Erwerbslosen gestoppt werden. Doch die vielseitigen Probleme der Stadt können dadurch nicht alle gelöst werden. Paul Erzkamp zumindest sagt, die Verhältnisse in Gelsenkirchen könnten sich nur ändern, wenn man grundlegend die »Verteilungsfrage« stellt.