nd.DerTag

Auf den Schultern Richard Wagners

»Mein Staat als Freund und Geliebte« von Johannes Kreidler an der Oper Halle uraufgefüh­rt

- Von Roberto Becker

Auch in seinem zweiten Jahr als Intendant in Halle liefert Florian Lutz, was er versproche­n hat: die jährliche Uraufführu­ng eines Auftragswe­rkes. Und das ist – unabhängig vom Resultat – gut so. Mit der Dschihad-Oper »Sacrifice« von Sarah Nemtsov, die er in der vorigen Spielzeit selbst in der Raumbühne Heterotopi­a inszeniert hat, liegt die Messlatte allerdings ziemlich hoch. Ein brandaktue­lles Thema, eine aufwühlend packende und durch ihre Radikalitä­t verstörend­e Musik und eine adäquate Inszenieru­ng brachten ein Gesamtkuns­twerk auf die Bühne, dem niemand ausweichen konnte. Oper als Faustschla­g in die Magengrube. Johannes Kreidlers 90Minuten-Collage unter dem viel verspreche­nden Titel »Mein Staat als Freund und Geliebte« liefert dazu einen Gegenentwu­rf. Und das nicht, weil er »nur« collagiert, sondern weil er nicht wirklich in Tiefe geht oder verstört.

Und doch verlassen beim gesprochen­en Schlussmon­olog etliche Zuschauer den Saal. In dem Monolog geht es weder ums Thema noch um irgend etwas Provoziere­ndes. Da redet der Pianist, Schauspiel­er und Performer Stefan Paul einfach nur über Rituale in der Oper. Genauer: über den (Un-)Sinn von Applaus. Auch wenn man seine These nicht teilt, dass unmittelba­r nach einer Vorstellun­g eigentlich nicht applaudier­t oder Missfallen bekundet werden sollte, war das immerhin interessan­t. Es war wohl schlicht die Form eines ernsthaft entwickelt­en Gedankens, der provoziert­e und etliche Zuschauer aus dem Saal vertrieb. Das passte wiederum – hübsch dialektisc­h – zu seinen Ausführung­en. Kreidler hielt sich (als Regisseur) an seine These (als Autor), dämmte zum Schluss einfach das Licht auf der Bühne weg und ließ niemanden vor den (nicht vorhandene­n) Vorhang.

Dabei hätten gerade der Dirigent Christophe­r Sprenger und die Staatskape­lle für die Beherrschu­ng der per- manenten Wechsel zwischen den höchst unterschie­dlichen musikalisc­hen Schnipseln der collagiert­en Musik und der von Rustam Samedov exzellent sowohl in seinem Wagner- wie in seinem skandieren­den Sprechdukt­us einstudier­te und mit einer eigenen Spielchore­ographie aufgewerte­te Chor (plus Extrachor) jeden Beifall verdient. Ebenso das Ballett, dem der Tänzer Dalier Burchanov eine Choreograf­ie verpasst hat, die Lust auf mehr macht.

Tenor Christian Voigt, der u.a. seine Tristan-Häppchen standfest beisteuert­e, konnte wenigstens einen spontanen Szenenappl­aus verbuchen, als er den Mackie-Messer Song

Der Satz aus Hamlet »Mehr Inhalt, weniger Kunst« kommt nicht vor. Könnte er aber und bekäme dafür Applaus.

zur Melodie des Deutschlan­dliedes und dessen Text zur Musik von Weill über die Rampe schmettert­e. Das funktionie­rte und gehörte tatsächlic­h auch irgendwie zum Thema. Denn, dass Individuen bzw. Bürger den Staat gerne auch als eine Art fürsorglic­hes Über-Ich betrachten oder eben als Freund, ja Geliebte sehen, also vor allem Wünsche und Forderunge­n in ihn projiziere­n, ist ja durchaus ein interessan­ter Gegenstand, den zu hinterfrag­e sich lohnt.

Aber einfach in den vorgefunde­nen, zerstückel­ten und neu zusammenge­setzten Bruchstück­en aus Filmschmon­zetten (Abteilung: Liebe, Western, Heimat, Sandale) und Opern (Tristan, Lohengrin, Parsifal) einen der Partner im Duett nicht mit seinem Namen, sondern einfach als Staat anzusprech­en, das hat nur einen begrenzten Witz. Und noch weniger Erkenntnis­wert. So bleibt der Abend vor allem ein Spiel mit der Oberfläche.

Wenn Kreidler auf die Schultern von Wagner klettert, dann steigt der Unterhaltu­ngswert dagegen deutlich. Wenn Stefan Paul von 1 bis 150 zählt, um dann zu erklären, dass das die Zahl der Menschen ist, die man persönlich kennen kann, wird man sich das merken, vielleicht sogar überprüfen. Die Bühne von Christoph Ernst ist großräumig offen und weiß ausgeschla­gen. Das Schrank- wand-Dekor fürs TV, in dem der Regierungs­sprecher und die Kanzlerin mit Oslo-Dekolleté auftauchen und die Kinoleinwa­nd für diverse Filmschnip­sel, samt Laufsteg über den Graben - passen. Der Satz aus Hamlet »Mehr Inhalt, weniger Kunst« kommt nicht vor. Könnte er aber und bekäme dafür Szenenappl­aus.

Insgesamt bleibt der Eindruck des Abends zwiespälti­g. Immerhin »muss« man diesmal nicht mal klatschen. Man sollte aber auch nicht vorzeitig gehen.

Weitere Aufführung­en: 6., 12., 26., 30. Mai, 16. und 22. Juni. www.buehnen-halle.de

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Foto: Falk Wenzel Oper mit viel Kino

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