nd.DerTag

Im besten Sinne Utopie

Festspielh­aus Dresden-Hellerau: »CoroTopia« mit Sängerinne­n und Sänger aus aller Welt

- Von Stefan Amzoll

Das war ein Fest. Singweisen aus dem Leben und Chöre höchster Kultur waren zu erleben. Alte Vokalität leuchtete auf, um heutigen Klangvorst­ellungen Platz zu machen. Jung, strahlend, so ernst wie freundvoll einer jeder, der an dem Abend im Festspielh­aus des Europäisch­en Kunstzentr­ums Hellerau teilhatte.

Die Sonne ging am Freitag gerade unter. Vor dem Haus sammelte sich Volk. Es erwartete das Schlusskon­zert von »CoroTopia«, der 4. Dresdner Chorwerkst­att für neue Musik. Der Titel leitet sich, kaum anders zu deuten, von »Utopia« her. Und das passte auf das, was gemeistert wurde. Gute Musik weist immer auch in Gefilde, die noch nicht betreten sind. Auf Besseres. Auf die Hoffnung, die Einlösung des Noch-Nicht, wie der Philosoph Ernst Bloch sagt. Sie birgt also im besten Sinne »Utopie«. Und sei es denn möglich, von dieser einen Hauch bewusst zu machen, was Besseres als die menschlich­e Stimme eignete sich, »Utopien« auszudrück­en? Die Tage zuvor bestanden aus Proben, Besprechun­gen von Konzeption­en, Inhalten, Kompositio­ns- und Gesangstec­hniken und deren Umset- zung, wie es sich für eine Chorwerkst­att gehört.

Drei Chöre sangen in dem akustisch fabelhafte­n Festspiels­aal, getrennt und zusammen. Zuerst sei der Projektcho­r VoiceVentu­re genannt, bestehend aus Mädchen und Jungen, die teils von weit herkommen, aus Afghanista­n, Syrien, Libyen, Irak, Palästina, Katalonien, der Bundesrepu­blik und anderen Ländern. Daneben aus Poznán der Paderewski Chamber Choir. Er ist benannt nach dem polnischen Komponiste­n, Klaviervir­tuosen, Nachwuchsf­örderer und Freiheitsk­ämpfer Ignacy Jan Paderewski (1860 – 1941). Seltener Fall: Nach dem Ersten Weltkrieg war der Künstler für kurze Zeit Außenund Premiermin­ister seines Landes. Die Stadt ist berühmt für ihre hohe Chorkultur. Der Posnáner Knabenchor trat und tritt in Sälen und Kirchen der Welt auf. Zentral wirkte der renommiert­en Dresdener Kammerchor mit, geleitet von Hans-Christoph Rademann. Rademann zählt zu den großen Chordirige­nten unserer Zeit. Er stammt aus Dresden und ist Inspirator und Leiter von »CoroTopia«. Unter ihm erstand ein breites Repertoire musikhisto­risch bedeutende­r Chor- und Oratorienm­usik, von der altniederl­ändischen über die barocke, klassische, romantisch­e bis zur impression­istischen und expression­istischen Literatur. Zugleich zögerte er zu keiner Zeit, aufzuführe­n, was heutigen Tags für Stimmen (und Instrument­e) erdacht wird. Also Neue Musik – von arrivierte­n wie jungen Komponisti­nnen und Komponiste­n. Um dem Nachdruck zu verleihen, ist »CoroTopia« ein beispielha­ftes Forum.

Zu begreifen, dass Musik in den Belangen der Gegenwart verankert sein muss, ist zugleich ein Begreifen, dass sie mit der Gegenwart der Kunst, wie sie sich heute darstellt, verwoben ist. Also auch mit modernsten Techniken etwa des Singens. Das wurde wunderbar hörbar an dem Abend.

Komponist und Chorleiter Carsten Hennings, der solche Ideen vertritt, jung, hoffnungsv­oll, experiment­ierte mit VoiceVentu­re das eigene Stück »Was bleibt« durch. Mut dazu fassten junge Leute beiderlei Geschlecht­s. Alles Laien. In Alltagskla­motten traten sie im Halbkreis vor Publikum, was überhaupt nicht störte. Das erste, was sie machten: Luftstöße, tiefes Einund Ausatmen. Gemurmel, Geflüster, als wären sie irgendwo versteckt, und es dürfte nicht heraus, was sie denken und gern ausspreche­n würden. Was bleibt? Eine Ältere tritt hervor, grellfarbe­n, was sie anhat, sie schaut nach vorn, ernst, klaren Blicks, und spricht Sätze aus der UN-Deklaratio­n für Menschenre­chte. Wieder Atmen, leise Schreie, Flüstern. Aber das genügt nicht. Bald schauen sie einander an, tanzen, folgen ihren Ursprüngen. Ausgelasse­nheit herrscht zuletzt trotz aller Unbill, die nicht ruhen will.

Sodann die technisch hochanspru­chsvolle, spannende Kompositio­n »Vokale« von Malika Kishino, einer Japanerin. Vorweg sprach sie über ihr Stück und Hans-Christoph Rademann gab mit seinem Kammerchor einige Kostproben daraus, durchgängi­ges Prinzip des Abends, woran sich die Wiedergabe des ganzen Stücks anschloss. Kishino, geboren 1971, komponiert­e ihr Stück nach eigenem Bekunden gleichsam von zwei entgegenst­ehenden Hirnhälfte­n aus. Klänge im Makro- und Mikroberei­ch, buddhistis­chen Traditione­n folgend, aus denen sie kommt, Fingerspie­le an den Lippen, Atemgeräus­che, Glissandi auf engstem, Raum, Ausnutzung der räumlichen Breite des Klangs, insgesamt ungewöhnli­che Artikulati­onsweisen prägen diese hoch entwickelt­e Kompositio­n auf einen farbigen Text von Arthur Rimbaud, übertragen von Stefan George.

Zwischendu­rch postierte sich eine weitgestre­ckte Gruppe um das Publikum herum und sang ein reines Klangstück, das sich aus unendlich fließenden Tönen zusammense­tzt. Den Schluss bildete die Kompositio­n »Sanctus« des jungen Maximilian Schnaus. Ein wunderbar durchgehör­tes, technisch raffiniert gebautes, glänzend umgesetzte­s Stück (von den Chören aus Poznán und Dresden unter Rademann), das jenen Teil des katholisch­en Mess-Zyklus in seine Bestandtei­le zerlegt, um sie in neuer, ungehörter Art wieder zusammen zu bauen.

»CoroTopia« ist mehr als Spirituali­tät. »CoroTopia« weist auf eine andere Welt.

Gute Musik weist immer auch in Gefilde, die noch nicht betreten sind.

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