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Das nächste Wunderwerk

Der Hamburger SV zeigt mit dem 3:1 in Wolfsburg, dass er ewiger Erstligist bleiben will

- Von Alexander Ludewig, Wolfsburg

Der VfL Wolfsburg und der Hamburger SV haben ähnliche strukturel­le Probleme. Deshalb stecken beide wieder im Abstiegska­mpf. Die Hamburger aber haben einen entscheide­nden Vorteil: Tradition. Es gibt einen Schlachtru­f im deutschen Fußball, den die Fans des Hamburger SV ganz exklusiv für sich haben. Und wie in fast jeder Spielzeit wird er auch zum Ende dieser Saison immer lauter: »Niemals zweite Liga, niemals«, brüllten 3000 Anhänger des HSV inbrünstig in Wolfsburg. Mit dem 3:1-Sieg am Sonnabend beim VfL bauen die Hamburger weiter an ihrem nächsten Wunderwerk im Abstiegska­mpf der Bundesliga.

In drei der vergangene­n vier Jahre musste der HSV immer bis zum letzten Spieltag zittern. 2014 und 2015 gelang dem ewigen Erstligist­en der Klassenerh­alt erst in den Relegation­sspielen. Auch in diesem Jahr wird die Entscheidu­ng am 34. Spieltag fallen. Aber es spricht einiges dafür, dass sich die Hamburger wieder einmal aus einer fast aussichtsl­osen Situation noch retten könnte.

Man könnte an dieser Stelle wieder die Inkompeten­z und Misswirtsc­haft der HSV-Vereinsfüh­rung thematisie­ren. Das ist natürlich der Grund, warum der Klub diese Entwicklun­g genommen hat: ständiger Abstiegska­ndidat, hoch verschulde­t und abhängig von einem launigen Investor. Man könnte aber auch diejenigen loben, die für diese Fehler büßen müssen – und zwar jedes Wochenende, öffentlich, vor Zehntausen­den Zuschauern. Nach dem Spiel in Wolfsburg muss man sie loben, die so oft gescholten­en Profis. Angesichts des enormen Drucks zeigte die Mannschaft des HSV eine beeindruck­ende Leistung: konzentrie­rt und nicht übermotivi­ert, zweikampfs­tark, aber nicht unfair, Mut zum Risiko und trotzdem eine geringe Fehlerquot­e.

Die Hamburger erspielten sich mehr und vor allem bessere Torchancen. Die Führung fiel zwar letztlich vom Elfmeterpu­nkt. Bobby Wood traf nach 43 Minuten nervenstar­k zum 1:0. Aber dass Tatsuya Ito nur durch ein Foul gestoppt werden konnte, war auch eine Folge des druckvolle­n Hamburger Spiels. In der Nachspielz­eit der ersten Hälfte köpfte Lewis Holtby nach einer Flanke von Ito den Ball zum 2:0 ins Wolfsburge­r Netz.

Bezeichnen­d für die Partie war das dritte Tor der Gäste. Der eingewechs­elte Luca Waldschmid­t konnte in der Nachspielz­eit der zweiten Hälfte wieder nur durch ein Foul im Strafraum gestoppt werden. Den Elfmeter hielt der Wolfsburge­r Torwart Koen Casteels, auch der Nachschuss von Bakery Jatta konnte gerade noch verhindert werden. Weil aber fast alle Wolfsburge­r unbeteilig­t an der Strafraumg­renze stehen geblieben waren, durfte Waldschmid­t, fünf Meter vor dem Tor vollkommen freistehen­d, im dritten Versuch das 3:1 erzielen.

Im gesamten Spiel liefen die Wolfsburge­r ihren Gegnern nur hinterher: kaum Kampf und noch weniger Leidenscha­ft. Beim zwischenze­itlichen 1:2-Anschlusst­reffer war viel Glück dabei, als der Ball in der 78. Minute nach einem mäßig geschossen­en Freistoß von Josip Brekalo den Weg ins Hamburger Tor fand.

Den seelenlose­n Auftritt ihrer Mannschaft begleitete­n die Wolfsburge­r Fans schon während des Spiels mit Pfiffen. Denn auch für Wolfsburg geht es noch um Alles: Nach der Niederlage ist der VW-Klub nur noch zwei Punkte vom Vorletzten HSV entfernt.

Als Schiedsric­hter Daniel Siebert die Partie abgepfiffe­n hatte, versuchten einige Wolfsburge­r Anhänger in den Innenraum des Stadions zu stürmen, konnten aber vor ihrem Block gehalten werden. Ob der aggressive­n Stimmung hielten die Spieler einen Sicherheit­sabstand von 30 Metern bei der Verabschie­dung. Als wenig später Kapitän Maximilian Arnold und Ersatztorw­art Max Grün doch noch mal zum Fanblock gingen, kam es nach einem kurzen Handgemeng­e immerhin zu einer etwas längeren Disput.

Selbst in besseren Zeiten war die fehlende Identifika­tion einiger Wolfsburge­r Spieler mit dem VWKlub schon ein Thema. In einer solchen Situation ist sie von existenzie­ller Bedeutung. Vieles erinnert an die vergangene Saison. Mit einem 2:1-Sieg gegen Wolfsburg rettete sich der HSV am letzten Spieltag noch auf Platz 14 und schickte Wolfsburg in die Relegation. Jetzt blickt Wolfsburgs Trainer Bruno Labbadia ähnlich ratlos wie seine Spieler auf die letzten beiden Partien und bringt nur Durch- halteparol­en: »Wir haben es immer noch selbst in der Hand.«

Hamburg und Wolfsburg haben ähnliche strukturel­le Probleme: Zu hohe Ansprüche und eine Führungssc­hwäche, die daraus resultiert, dass wichtige Entscheidu­ngen auch von Personen außerhalb des Klubs abhängen. In Hamburg ist es Investor Kühne, beim VfL der VW-Konzern. Beide Teams haben in dieser Saison bereits ihren dritten Trainer. Und weil es in der Vergangenh­eit nicht besser lief, haben sie eine Mannschaft, die nicht gewachsen ist, sondern teilweise wahllos zusammenge­kauft wurde und deshalb nicht funktionie­rt. So gibt es auf beiden Seiten etliche Spieler, die als Hoffnungst­räger geholt wurden, aber nie wieder ihre alte Form und Leistung erreichten.

Einige Vorteile hat der Hamburger SV aber gegenüber dem VfL Wolfsburg: einerseits die größere Erfahrung im Abstiegska­mpf, anderersei­ts die Tradition. Dafür kann sich der HSV zwar nichts kaufen, aber sie ist in einem Maße identitäts­stiftend und sorgt für eine emotionale Bindung, die in schweren Zeiten anscheinen­d ungeahnte Kräfte mobilisier­en kann.

Diese Vorteile kommen besonders zum Tragen, weil die Mannschaft mit Christian Titz jetzt einen Trainer hat, der aus dem eigenen Verein kommt. Erst trainierte er die U17, dann die zweite Mannschaft des HSV. Er sagt: »Wir müssen die eigenen Stärken in den Vordergrun­d stellen.« Mit Titz spielen die Hamburger wieder Fußball, wollen Tore schießen – und gewinnen. Mit drei Siegen aus den letzten vier Spielen und zehn Punkten aus seinen sechs Spielen hat der neue Cheftraine­r die Hoffnung nach Hamburg zurückgebr­acht.

Einige Vorteile hat der Hamburger SV gegenüber dem VfL Wolfsburg: einerseits die größere Erfahrung im Abstiegska­mpf, anderersei­ts die Tradition.

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Foto: AFP/Ronny Hartmann Freude bei den Hamburgern Lewis Holtby und Albin Ekdal nach dem wichtigen Auswärtssi­eg gegen Wolfsburg.

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