Zwischen Volksfest und Protest
Vielerorts richtet sich der 1. Mai gegen Nationalismus und Rechtsextremismus
Berlin. Wie so viele Geschichten, beginnt auch die des 1. Mai in den USA. An besagtem Datum traten 1886 Chicagos Arbeiter und Arbeiterinnen in den Streik, um die Einführung des Acht-Stunden-Tags zu erzwingen. Der Arbeitskampf endete blutig und die Proteste griffen auf Europa über. In Erinnerung an diese Ereignisse erklärte ein internationaler Arbeiterkongress in Paris den 1. Mai zum Kampftag.
Gerade in Zeiten wie diesen, in denen der Nationalismus wieder um sich greift, sei daran erinnert, dass der 1. Mai in vielen Län- dern ein Feiertag ist. In der Türkei (siehe Foto) heißt er »Tag der Arbeit und Solidarität«, wird aber immer wieder von Übergriffen der Sicherheitskräfte überschattet.
In Deutschland hatten die meisten der bundesweit 500 Veranstaltungen zum Feiertag eher Volksfestcharakter. Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann zeigte sich trotz Tarifflucht und Digitalisierung zuversichtlich: »Wir haben vor 100 Jahren schon den Industriekapitalismus zivilisiert. Heute nennen wir das soziale Marktwirtschaft.«
In Chemnitz, Erfurt und Cottbus verbanden sich die Maidemos mit Protesten gegen Auftritte rechtsextremer oder rechtspopulistischer Gruppen.
Währenddessen richteten die Medien in Berlin ihre ganze Aufmerksamkeit auf die oft von Krawallen begleitete »Revolutionäre 1. Mai-Demonstration«. Dort sollten kurdische Fahnen gezeigt werden, um Solidarität mit den Kurden in Nordsyrien zu bekunden. Die linksradikale Demonstration endete erst nach Redaktionsschluss.
Am 1. Mai kam es in der französischen Hauptstadt zu Ausschreitungen. Zur Großdemonstration hatte wie in den vergangenen Jahren nur die Gewerkschaft CGT aufgerufen. Trotz der zahlreichen sozialen Konflikte, die Frankreich gegenwärtig bewegen, ist es weder den Gewerkschaften noch den linken Parteien und Organisationen gelungen, am 1. Mai gemeinsam gegen die von ihnen abgelehnte Reformpolitik von Präsident Emmanuel Macron aufzutreten. Der fühlt sich dadurch sichtlich ermutigt, seinen Kurs unbeirrt fortzusetzen. Wie schon seit Jahren hatte zur Großdemonstration in Paris auch diesmal nur die Gewerkschaft CGT aufgerufen.
Die Demonstration ist von Ausschreitungen überschattet worden. Die Polizei meldete, dass Vermummte Wurfgeschosse gegen Einsatzkräfte gerichtet hätten. Zudem seien ein Restaurant und ein Geschäft beschädigt worden. Laut Behörden hatten sich rund 1200 vermummte Personen auf der Demonstrationsroute versammelt. Auf Fernsehbildern waren brennende Mülltonnen zu sehen.
Die letzte gemeinsame Mai-Demonstration der großen Gewerkschaftsverbände fand 2012 zwischen den Wahlgängen der Präsidentschaftswahl statt. Bei den gegenwärtigen Streiks und anderen Kampfmaßnahmen bei der SNCF um die geplante Bahnreform, bei Air France um höhere Löhne, bei staatlichen Krankenhäusern und Pflegeheimen um mehr Mittel und Personal, bei Studenten, die aus Protest gegen restriktive Zulassungsbedingungen vielerorts Universitäten blockieren, oder bei den Besetzern des Flughafengeländes in Notre-Dame-des-Landes, die für alternative Landwirtschaftsprojekte kämpfen, finden zwar in einzelnen Branchen die Fachgewerkschaften zueinander, doch zur von Jean-Luc Mé- lenchon und anderen Linkspolitikern beschworenen »Verschmelzung der Konflikte« kommt es nicht.
Lediglich der Anfang April begonnene Bahnstreik wird gemeinsam von allen Eisenbahnergewerkschaften geführt, aber die Regierung arbeitet daran, die reformistische Gewerkschaft CFDT durch Zugeständnisse aus der Einheitsfront herauszubrechen und so den Streik, bei dem sich die Beteiligung zwischen Anfang und Ende April von 48 auf 23 Prozent halbiert hat, zu »entschärfen«. Eine Beteiligung an den Mai-Demonstrationen haben die Eisenbahngewerkschaften abgelehnt, um nicht den Eindruck einer »Politisierung« ihres rein gewerkschaftlichen Kampfes aufkommen zu lassen. Die CFDT beteiligte sich an keiner Aktion, ihr Vorsitzender Laurent Berger hatte demonstrativ angekündigt, er werde sich an dem Tag den italienischen Dokumentarfilm »7 minuti« von Michele Placido ansehen, bei dem es um sozialen Dialog geht.
Auch die ebenfalls prinzipiell für Reformen aufgeschlossenen Gewerkschaftsverbände Unsa und CFE-CGC haben nicht nur die Einladung der CGT abgelehnt, sondern auch keine eigene Maiveranstaltung organisiert. Der Gewerkschaftsverband Force Ouvrière (FO) ist noch mit der eigenen Neuausrichtung nach dem Kongress vor einer Woche beschäftigt. Dort wurde der langjährige FO-Vorsitzende Jean-Claude Mailly durch Pascal Pavageau abgelöst, der eine größere Bereitschaft zum Zusammengehen mit anderen Verbänden zeigt als sein Vorgänger.
Auch die linken Parteien und Organisationen finden nicht zueinander, obwohl alle Macrons Reformpolitik ablehnen. Die Kommunistische Partei (FKP), die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) und ein Dutzend weiterer linker und linksradikaler Parteien und Organisationen hatten für den Vorabend zu einem Meeting auf dem Place de la République auf- gerufen, zu dem einige hundert Pariser kamen und wo Vertreter streikender Beschäftigter unter anderem von SNCF, Air France, aus Krankenhäusern und Universitäten über ihren Kampf berichteten.
Während zu den Rednern auch der FKP-Vorsitzende Pierre Laurent und der ehemalige NPA-Präsidentschaftskandidat Olivier Besancenot gehörten, hatten Jean-Luc Mélenchon und seine Bewegung La France insoumise, die sich als einzige starke und legitime linke Oppositionskraft verstehen, eine Teilnahme am Meeting abgelehnt. La France insoumise ruft für Sonnabend zu einer eigenen Demonstration auf. Dafür haben nicht nur die anderen linken Parteien und Organisationen, sondern auch die CGT ihre Teilnahme kategorisch ausgeschlossen. »Wir führen unseren Kampf auf gewerkschaftlicher Ebene und lassen uns nicht vereinnahmen für den Versuch, die Regierung zu stürzen«, so ein CGT-Sprecher.