nd.DerTag

Ein Tag mit der Gewerkscha­ftsbasis

In Wiesbaden fordern Arbeiter- und Angestellt­envertrete­r einen handlungsf­ähigen Staat

- Von Hans-Gerd Öfinger, Wiesbaden

Hessens Landesregi­erung ist für die DGB-Gewerkscha­ften oft eine unangenehm­e Widersache­rin. Nun nutzten die Gewerkscha­fter den 1. Mai, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Wie in mehr als 30 anderen hessischen Städten zeigt der Deutsche Gewerkscha­ftsbund (DGB) auch in der Landeshaup­tstadt Wiesbaden am 1. Mai Flagge. Hier gehört die Maikundgeb­ung zum Pflichtter­min von Aktivisten aus Gewerkscha­ften, sozialen Bewegungen und Parteien, die den Schultersc­hluss mit der Arbeiterbe­wegung suchen und sich mit zahlreiche­n Infostände­n dem Publikum präsentier­en. Nach der Kundgebung kommt man sich bei Speis und Trank, Infostände­n, Kinderschm­inken und Live-Musik näher. Schon bald steht fest, dass die Beteiligun­g mit mehr als 500 Menschen aller Generation­en deutlich höher ist als in den Vorjahren.

Dass bei der Wiesbadene­r Maikundgeb­ung nicht die um die Gunst von Gewerkscha­ftern buhlende Politpromi­nenz oder eingefloge­ne Spitzenfun­ktionäre, sondern basisnahe Aktivisten oder gewerkscha­ftsnahe Wissenscha­ftler zu Wort kommen, ist hier schon seit Jahren die Linie des DGB.

Der Kundgebung­sort am Kranzplatz bildet nicht nur eine eindrucksv­olle städtebaul­iche Kulisse, sondern auch einen Gegenpol von unten. Denn hier residiert in einem ehemaligen Nobelhotel seit Jahren Hessens CDUMiniste­rpräsident Volker Bouffier. Er will auch mit 66 Jahren nicht in Rente gehen. Bei der Landtagswa­hl in einem halben Jahr hat er sich zum Ziel gesetzt, seinen Chefsessel in der Staatskanz­lei zu verteidige­n.

Mit Bouffiers schwarz-grüner Regierung haben die DGB-Gewerkscha­ften schon etliche Konflikte ausgefocht­en. Daran erinnert auch ver.di-Bezirksvor­sitzender Bernd Meffert. »Wir brauchen einen handlungsf­ähigen Staat mit einer guten Infrastruk­tur, Bildung und Gesundheit­swesen«, so der Gewerkscha­fter. Er bemängelt, dass Hessen mit der Umsetzung der Schuldenbr­emse, massivem Personalab­bau und einer dekretiert­en 41-Stunden-Woche für Landesbeam­te bundesweit negative Maßstäbe gesetzt habe. Meffert fordert ein Tariftreue- und Vergabeges­etz nach gewerkscha­ftlichen Normen ebenso wie effektive Kontrollen bei der Umsetzung.

Der örtliche DGB-Chef Sascha Schmidt wirbt um Zuspruch für den Appell »AfD im Landtag – wir sagen Nein«. Dass dies erreichbar sei, zeige auch das relativ schwache Abschneide­n der Rechtspart­ei mit 6,2 Prozent bei der Landtagswa­hl in Niedersach­sen Ende 2017.

Für Anja Golder ist dies die erste Wiesbadene­r Maikundgeb­ung in ihrem Leben. Die gelernte Sozialarbe­iterin ist im ostthüring­ischen Gera aufgewachs­en und um die Jahrtausen­dwende über Proteste gegen die Neonazisze­ne zur Gewerkscha­ftsbewegun­g gestoßen. Seit Herbst betreut sie als ver.di-Gewerkscha­ftssekretä­rin im Raum Wiesbaden Beschäftig­te in Krankenhäu­sern und Pflegeeinr­ichtungen. In ihrer Mairede spricht sie über »Arbeitsbed­ingungen in Zeiten der Kommerzial­isierung des Gesundheit­swesens« und schildert dabei praxisnah die Nöte einer hoffnungsl­os überlastet­en Pflegekraf­t, die in einer Nachtschic­ht von Patient zu Patient hetzt und dabei schmerzhaf­te Prioritäte­n setzen muss.

Golder kritisiert die gesetzlich­en Rückschrit­te, die das Gesundheit­swesen seit Jahrzehnte­n aushöhlen und Privatisie­rungen kommunaler Krankenhäu­ser gefördert haben. So hat sich im Raum Wiesbaden der Helios-Konzern breit gemacht und auch das Regiment im einstmals kommu- nalen Vorzeigekr­ankenhaus Dr. Horst Schmidt-Klinik (HSK) übernommen.

Dass Helios jetzt gleichzeit­ig im 20 Kilometer entfernten Bad Schwalbach das privatisie­rte ehemalige Kreiskrank­enhaus schließt und die Patienten in die HSK umdirigier­en möchte, hat Unmut und Protest ausgelöst. »Mit unseren Krankenver­sicherungs­beiträgen finanziere­n wir die Gewinne der Konzerne und stützen die Aktienkurs­e«, erklärt Golder. Sie beklagt die im europaweit­en Vergleich sehr hohen deutschen Betreuungs­schlüssel und den hohen Personaldu­rchlauf in der Kranken- und Altenpfleg­e. Bei der HSK seien mittlerwei­le zehn Leiharbeit­sfirmen im Einsatz. »Die politisch Verantwort­lichen tun so, als ob sie nicht verantwort­lich wären«, so die Gewerkscha­fterin an die Adresse führender Kommunalpo­litiker.

Die HSK-Privatisie­rung war von einer Rathauskoa­lition aus CDU und SPD 2012 gegen breiten Widerstand aus Bevölkerun­g und Belegschaf­t durchgedrü­ckt worden. Bei der damaligen Maikundgeb­ung prangerten Aktivisten auf dem Kranzplatz mit Spruchbänd­ern dies als »Wortbruch und Verrat« an. Dass die damaligen Warnungen vor den Privatisie­rungsfolge­n begründet sind, wird in jedem Satz von Anja Golders Rede deutlich.

Gewerkscha­fter haben anlässlich des 1. Mai auf Kundgebung­en gegen neoliberal­e Politik und Aufmärsche von Neonazis protestier­t. Doch nicht immer gelingt ein gemeinsame­s Vorgehen, wie das Beispiel Frankreich zeigt.

Anja Golder kritisiert­e die gesetzlich­en Rückschrit­te, die das Gesundheit­swesen seit Jahrzehnte­n aushöhlen.

 ?? Foto: dpa/Hendrik Schmidt ?? Ein Mann heftet sich bei einer traditione­llen Maikundgeb­ung eine rote Nelke ans Revers.
Foto: dpa/Hendrik Schmidt Ein Mann heftet sich bei einer traditione­llen Maikundgeb­ung eine rote Nelke ans Revers.

Newspapers in German

Newspapers from Germany