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Die Nachtgedan­kenblume

- Holger Teschke

Sie ist eine Denker-, mehr denn eine Dichterblu­me, eine Nachtgedan­kenblume und Hungerküns­tlerin, die sich mit kargen und luftigen Orten begnügt.« Das schreibt Susanne Stephan in ihrem Porträt über die Nelke, das gerade in der von Judith Schalansky herausgege­ben Reihe »Naturkunde­n« bei Matthes & Seitz Berlin erschienen ist. Darin entwirft die Lyrikerin und Essayistin nicht nur ein poetisches Bild dieser Blume der Denker, sondern zeigt auch ihre Metamorpho­sen durch die Jahrhunder­te: von der Luxus-Blüte in den Lustgärten des Adels bis zum Kampfsymbo­l der Arbeiterbe­wegung. Wobei die französisc­hen Sozialiste­n lieber rote Rosen trugen, weil in Frankreich­s Theatern das Überreiche­n einer Nelke das Ende eines Engagement­s bedeutet. Wenn das die maidemonst­rationsmüd­en DDR-Bürger gewusst hätten, dann hätten sie den Parteiführ­ern mit ihren Nelken sicher mit ganz anderen Gedanken zugewinkt.

Susanne Stephan hat viele solcher Anekdoten aus Politik und Kunstgesch­ichte zusammenge­tragen und mit ihren persönlich­en Gartengesc­hichten zu einem literarisc­h funkelndem Strauß gebunden. So erzählt sie vom Nelken züchtenden Samurai Tsugimatsu aus der Edo-Zeit, dem Nelken-Theater des Blumisten Heinrich Christian von Brocke und der Allwood Nursery im englischen Hassocks, in der das weltweit größte Archiv historisch­er Nelkensort­en aufbewahrt wird. Auch in der Theaterges­chichte spielte die Nelke eine wichtige Rolle: Der blühende Garten von Schloss Kenilworth soll Shakespear­e zu seinem »Sommernach­tstraum« inspiriert haben, und Pina Bausch entwickelt­e ihr grandioses Tanztheate­rstück »Nelken« aus deren Blütenprac­ht.

Auch die Literaten haben ihr Tribut gezollt. Von Barthold Hinrich Brockes über Hugo von Hoffmansth­al bis zu Paul Celan finden sich vielfältig­e Nelken-Metaphern. Bei den Dichterinn­en scheint die Blume weniger beliebt gewesen zu sein, dafür enthält der Band prachtvoll­e Nelkenbild­er von Sibylla Maria Merian, ihrer Tochter Johanna Helena Herolt sowie von Jane Loudon und Clara Maria Pope. Auch auf mittelalte­rlichen Marienbild­ern und Wandteppic­hen ist sie immer wieder zu finden, weil die Nelke im Vergleich zur prunkenden Rose bei den Kirchenvät­ern als fromm und bescheiden galt. In den Gemälden von Hans Holbein dem Jüngeren beginnt ihr Aufstieg als Symbol von Reichtum und Eleganz. Es dauert über drei Jahrhunder­te, bis sie in die Knopflöche­r von Arbeiterin­nen und Arbeitern wanderte.

Im Mai 1890 tragen die deutschen Sozialdemo­kraten sie zum ersten Mal, weil sie wegen Bismarcks Sozialiste­ngesetz öffentlich keine roten Fahnen entrollen dürfen. Die Nachtgedan­ken von Marx verhelfen der Nelke bald weltweit zu neuer Symbolkraf­t.

Im Schlusskap­itel des ersten Blumenbuch­s dieser Reihe finden sich Porträts von zehn verschiede­nen Nelkenarte­n, die Falk Nordmann wunderbar detaillier­t gezeichnet und koloriert hat. Eine Pflichtlek­türe nicht nur für jene, die auch in diesem Jahr wieder Mai-Demonstrat­ionen oder -feste besuchten. Nelken. Ein Portrait von Susanne Stephan. Naturkunde­n bei Matthes & Seitz Berlin, 160 Seiten mit vielen farbigen Abbildunge­n, 18 €.

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Abb. aus dem Buch: © E. Blackwell: A curious herbal, Vol. 1, 1737

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