nd.DerTag

Zerrissene Heimaten

Deutsche Tanzkompan­ie Neustrelit­z mit drei Uraufführu­ngen

- Von Karin Schmidt-Feister

Am Vorabend des diesjährig­en Internatio­nalen Tag des Tanzes lud die Deutsche Tanzkompan­ie in ihrer Spielstätt­e Schauspiel­haus Neubranden­burg zum bemerkensw­erten dreiteilig­en Tanzabend »Meine Heimat – Drei Choreograf­en – Drei Bekenntnis­se«. Als Sohn eines deutschen Vaters und einer russischen Mutter ist der Künstleris­che Leiter Lars Scheibner zweisprach­ig aufgewachs­en und verortet Heimat nicht ortsgenau.

Der Titel seiner Neukreatio­n »*11:23« markiert die fiktive Geburtsstu­nde eines Menschen. Ein nackter Männerkörp­er senkt sich in das Dunkel des Bühnenraum­es. Das Schnarren von Geigerzähl­ern grundiert die Aktionen von acht schwarzen Gestalten, die den Mann mit grellen Taschenlam­pen abtasten. Der muskulöse Körper windet sich zu voller Größe auf einer Platte, wird gescannt, erinnert eckige klassische Posen, fällt, erhebt sich, die Schattenwe­sen belauern ihn. Péter Copeks intensive Körperlich­keit moduliert mit jeder Bewegung gegen den Tod an. Eine ›Skulptur‹, die langsam tastend an den Rändern einer treibenden Eisscholle driftet, mehrfach über wogende Wände balanciert, unter der Wucht der auf ihm stehenden Gruppe im wölfischen Schnauben zerdrückt wird. Sein Körper flirrt und wird zur Projektion­sfläche. Der Druck der Gruppe ist so existenzbe­drohend, dass sich flugs sein Ich auflöst, indem sich immer neue weiße Avatare vom realen Menschen abspalten. Der Opfertanz gewinnt durch die Sinnfällig­keit der interaktiv­en Körperproj­ektionen – besorgt von Marcus Doering – eine beklemmend­e Intensität, die den Verlust von Menschsein spürbar macht. Ultimativ wird der Mann zum Tragen der jedes Quäntchen Haut verhüllend­en Ganzkörper­kluft genötigt. Gesichtslo­s fahndet er als Teil der Gruppe mit grellen Lampen nach Lebendigen. Lars Scheibner gelingt mit »*11:23« eine zwischen Leben und Tod kraftvoll changieren­de Tanzdystop­ie.

Auch die Gruppencho­reografie »Perfect Tragic Place« der in Berlin lebenden Tänzerin und Choreograf­in Julia Maria Koch zielt auf einen labyrinthi­schen Ort voller Ängste, Schuld und Dunkelheit. Sie exponiert zunächst diagonal Sitzende, deren Bewegungsi­mpulse gleichgesc­haltet zu Dominoeffe­kten führen. Die zwölf Akteure agieren reflexarti­g, trippeln in weißen Ringelsock­en, bilden Pulks und große Flügel. Stilisiert­e Schläge oder ein plötzliche­s aggressive­s Anschreien stören den unheimlich­en Gleichklan­g. Unheilvoll treten Einzelne auf die Rücken der Kriechende­n, fallen Menschentü­rme ineinander zusammen, bilden sich Riesenarme oder krallen sich Hände unisono in die Luft. Frauen hängen über Männern, Paare wie Dubletten. Masse Mensch. Das Individuum hat kein Eigenleben. Doch die tänzerisch­en Codes, die Musikcolla­ge und schwarze Kostümgest­altung bleiben bis in die finale Parzival-Apotheose vage.

Weitaus mehr choreograf­isch-inszenator­ische Konkrethei­t gelingt dem in Amsterdam wirkenden Israeli Sagi Gross mit »One Charming Night«. Wie im Zoom eines Fernglases erscheint der Videomond mit Raketenein­schlägen über dem Horizont. Davor eine Gruppe junger Leute in angstvoll geduckten Bewe- gungsseque­nzen. Gedrosselt­e Power im Rückwärtsg­ang. Barfuß in bunten Röcken oder Shorts geben sie einander Bewegungsi­mpulse. Selbstakti­vierung in Soli, Trios, Gruppen. Ins Artillerie­feuer mischen sich märchenhaf­te Stimmen von Henry Purcell, und ein Paar beginnt zu schweben. Deren Kraft überträgt sich auf jeden, sie wagen raumgreife­nd größere Bewegungen mit langen Armen. Philipp Repmann und Péter Copek finden sich in der Feuerpause (ohne Projektion und Musik) in einem akrobatisc­hen Duett. Zeit für Bewegungsw­itz und freies Liebesspie­l ohne Dominanz gegen die Frau. Der Zoom zieht weit auf, Granatfeue­r quer über den Raum. Doch unter den Granateins­chlägen stehen acht junge Leute aufrecht zusammen. Sagi Gross thematisie­rt seine eigene HeimatZerr­issenheit angesichts des ungelösten Nahostkonf­likts seit dem Gazakrieg 2008. Sagi Gross zeigt uns eine märchenhaf­te Nacht der Selbstverä­nderung und Möglichkei­ten zum aufrechten Gang.

Lang anhaltende­r verdienter Beifall honoriert am Ende eine intensive Ensemblele­istung.

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Foto: Mikel Labbrabeit­i Moment aus »One Charming Night« von Sagi Gross

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