Fettiges London
Immer öfter stinkt es aus der Kanalisation verheerend – und teuer – zum Himmel
So lang wie die Tower Bridge breit (250 m) war ein Monster-Fettberg, der sich in London-Whitechapel in der Kanalisation gebildet hatte. Nun gibt es am Themsesüdufer ein Fettmonster, das noch größer ist. Peter Ackroyds fesselnde »Biografie« der Stadt London (erschienen 2002 auf 800 Seiten bei Knaus) beginnt mit der Feststellung, dass die Metropole an der Themse »zu allen Zeiten ein ungeheurer Ozean gewesen (sei), in dem ein Überleben nicht sicher ist. Die Kuppel von St. Paul’s sah man auf einem ›unruhig bewegten Meer‹ von Nebel schwanken, während schwarze Menschenströme über die London Bridge oder die Waterloo Bridge ziehen und sich als Sturzbäche in Londons schmale Durchgänge ergießen. Mitte des 19. Jahrhunderts sprachen die Sozialarbeiter davon, ›Untergehende‹ in Whitechapel oder Shoreditch zu retten, und Arthur Morrison, ein Romanschriftsteller jener Zeit, beschwört ein ›tobendes Meer von menschlichem Treibgut‹, das nach Rettung schreie...«
In dieses Drama von einst fügt sich eine aktuelle Geschichte großen Ausmaßes, die zugleich eine ungeschriebene Geschichte belastender Folgen modernen Konsums und seiner Wegwerf-»Kultur« darstellt: Die langsam aber sicher auf neun Millionen Einwohner zustrebende Hauptstadt wird zunehmend und wiederkehrend von Erstickungsanfällen seines überalterten und überlasteten Abwassersystems heimgesucht. Vor wenigen Monaten war in der Unterwelt des oben genannten Whitechapel, wo ehedem auch Jack the Ripper wütete, in der Kanalisation ein sogenannter Monster-Fett- berg entdeckt und in mühseliger und wenig appetitlicher Großarbeit aufgelöst worden. Inzwischen gibt es an der South Bank, am Südufer der Themse, mitten in der Stadt schon wieder einen Fettbergfund. Er wartet noch auf seine baldige Entschärfung, aber zweierlei weiß man schon über ihn: Er ist noch größer als der von Whitechapel, und die gesundheitlichen Gefahren, die er mit tödlichen Bakterien birgt, sind potenziell enorm, wie eine wissenschaftliche Studie des Fernsehsenders Channel 4 in Zusammenarbeit mit dem Wasserunternehmen Thames Water zeigt. Eine erste Autopsie des South-Bank-Fettbergs ergab eine Ansammlung hoch ansteckender Bakterien wie Listerien, E.coli und Campylobacter, die sich auch in der antibiotischen Pipeline-Unterwelt wohlfühlen.
Der inzwischen beseitigte Riesenkloß von Whitechapel war etwa 250 Meter lang, zehn Meter mehr als die Spannweite der Tower Bridge, und circa 130 Tonnen schwer, was nach Angaben britischer Zeitungen dem Gewicht von »19 afrikanischen Elefanten« oder »zwei Airbus-Maschinen vom Typ A318« entspricht. Bei einer Routineinspektion entdeckt, hatte durch Rückstau die Gefahr einer Überflutung von Straßen im Stadtteil bestanden. Die Beseitigung der Verstopfung hatte drei Wochen gedauert. Matt Rimmer, Chef der Abwassersektion von Thames Water, beschrieb die Struktur des Fettbergs und die Mühsal seiner Abtragung: »Die Rohre waren voller verklumpter Fettrückstände aus Imbissrestaurants und privaten Haushalten, zusammengepappt mit Feuchttüchern, Wegwerfwindeln, Kondomen, Damenbinden, kleinen Plastikverpackungen, aber auch Rückständen von Tabletten, Cremes und muskelbildenden Substanzen, die in Fitnessstudios eingenommen werden, und, und, und.« Dem Koloss, laut Rimmer der größte, den er und seine Kollegen bis dahin gesehen hatten, rückten sie »an sieben Tagen die Woche« mit leistungsfähiger Technik, aber auch mit Schaufeln zu Leibe. »Wir hatten es mit einem Monster zu tun, das hart wie Beton ist und viel Muskel- und Maschinenkraft erforderte.«
Da an der South Bank nun schon wieder die gleiche Herausforderung gegenüber einem noch größeren unterirdischen Fettberg wartet, lenken die zuständigen Stellen die Öffentlichkeit verstärkt auf umweltbewussteres Entsorgungsverhalten. Dies umso mehr, als die Beseitigung solch monströser Blockaden und die Verarbeitung des Sondermülls in Recyclingunternehmen viel Geld verschlingt, allein im Falle Londons geschätzte 80 Millionen Pfund pro Jahr. Abwasserexperte Rimmer erklärt zwar, dass Thames Water mittlerweile prüfe, inwieweit solche Fettberge zur Biodieselgewinnung genutzt werden können. Doch die eigentliche Lösung sieht Rimmer im veränderten Verhalten von gewerblichen wie privaten Haushalten. Sein Besinnungsappell »Die Abwasserkanäle sind kein Auffangbecken für Haushaltsmüll, deshalb haben wir eine klare Botschaft an jedermann: Please, bin it – don’t block it!« Auf deutsch: Werfen Sie’s in den Müll und verstopfen Sie nicht die Rohre!