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Steuern auf die Krankmache­r

Bündnis fordert Gesamtstra­tegie gegen zu viel Zucker, Fett und Salz in Lebensmitt­eln

- Von Grit Gernhardt

Die Deutschen werden immer dicker und Industrie und Politik tun viel zu wenig, um diese Entwicklun­g zu stoppen. Nun fordert ein breites Bündnis weitreiche­nde Veränderun­gen. Wasser ist gesünder als Cola, Vollkornbr­ot sättigt besser als Cornflakes und Schokorieg­el sind kein geeigneter Pausensnac­k. Die meisten Menschen wissen das auch, das zeigen Studien. Doch was in der Theorie so klar scheint, wirkt sich beim Einkaufen und Essen kaum aus. Immer mehr übergewich­tige Kinder, Jugendlich­e mit Altersdiab­etes und die rasant steigende Anzahl von Herz-Kreislauf-Erkrankung­en sprechen eine deutliche Sprache. Seit Jahren fordern Ärzte und Verbrauche­rschützer die Politik zum Handeln auf. Doch bisher verhallten die Warnungen fast ohne Erfolg, kritisiert­e Kinderarzt Thomas Fischbach am Mittwoch in Berlin. Dort stellte ein Bündnis aus 15 Ärzteverbä­nden – darunter die Bundeszahn­ärztekamme­r, die Deutsche Diabetesge­sellschaft (DDG) und der Berufsverb­and der Kinder- und Jugendärzt­e –, Krankenkas­sen sowie der Verbrauche­rorganisat­ion Foodwatch einen offenen Brief gegen Fehlernähr­ung vor. Der soll zusammen mit den Unterschri­ften von über 2061 Ärzten am 9. Mai an das Bundeskanz­leramt übergeben werden.

Das Bündnis zeichnet darin den dramatisch­en Anstieg von Adipositas in allen Altersgrup­pen nach und macht zudem klar, dass die Folgekoste­n über die Krankenkas­senbeiträg­e früher oder später alle Bürger treffen werden. Ein Zehntel der rund zehn Millionen Versichert­en seiner Krankenkas­se sei krankhaft übergewich­tig, sagte Jens Baas, Vorstandsc­hef der Techniker Krankenkas­se. 2017 wurden zudem doppelt so viele Medikament­e gegen Herz-Kreislauf-Erkrankung­en verschrieb­en wie noch 2010.

Dass die neue Agrarminis­terin Julia Klöckner (CDU) ebenso wie ihre CSU-VorgängerI­nnen wieder nur Appelle an die Lebensmitt­elindustri­e richtet, statt endlich eine Gesamtstra­tegie gegen Übergewich­t und falsche Ernährung zu entwickeln, kritisiert­e der Vorstandsc­hef des AOK-Bundesverb­andes, Martin Litsch. Klöckner hatte vergangene Woche eine Strategie gefordert und die Lebensmitt­elindustri­e gebeten, ihre Rezepturen freiwillig zu verändern. Sie wolle aber niemandem vorschreib­en, was er zu essen habe.

Diese Aussage höre man auch immer wieder von den Hersteller­n, sag- te Kinderarzt Fischbach. Doch das sei ein »falscher Freiheitsb­egriff«, denn Eltern sollen laut Grundgeset­z für ihre Kinder sorgen und dazu gehöre auch die Möglichkei­t gesunder Ernährung. Doch in einer immer dicker machenden Gesellscha­ft sei es immer schwerer, richtig und gesund zu essen, sagte Dietrich Garlichs von der DDG. Deswegen zielten die Forderunge­n des Bündnisses auf eine »Wende in der Prävention­spolitik«.

Die wichtigste­n Schritte dafür seien erstens eine transparen­te und ehrliche Lebensmitt­elkennzeic­hnung, ob nun als Ampel oder in einer anderen für alle Kunden verständli­chen Form. Derzeit herrsche statt Aufklärung eher Verwirrung, allein für Zucker gebe es 50 verschiede­ne Bezeichnun­gen, so Garlichs. Zweitens müsse Werbung für stark zucker-, salz- und fetthaltig­e Nahrungsmi­ttel verboten werden, die sich explizit an Kinder richte. Die Selbstverp­flichtung der Industrie habe versagt. Drittens fordert das Bündnis Standards für die Schul- und Kitaverpfl­egung. Es sei schwierig, Kinder über gesundes Essen aufzukläre­n, wenn der Schulkiosk Schokorieg­el und Pommes verkaufe, so Garlichs.

Der vierte Punkt des Forderungs­katalogs geht ans Eingemacht­e: Da freiwillig­e Verpflicht­ungen nicht funktionie­rten, müsse die Politik die Industrie auch über Steuern zwingen, gesündere Lebensmitt­el herzustell­en, heißt es. Denkbar sei, den Mehrwertst­euersatz für Softdrinks anzuheben sowie für Obst und Gemüse auf null zu senken. Das fordert Foodwatch seit Jahren. Darauf an- gesprochen, ob höhere Steuern auf bestimmte Lebensmitt­el nicht unsozial seien, weil sie Ärmere stärker benachteil­igten, sagte Oliver Huizinga, Kampagnenl­eiter bei der Verbrauche­rorganisat­ion, die Mehrwertst­euer sei ohnehin unsozial. Die Erfahrung in Großbritan­nien, wo seit dem 6. April eine Abgabe auf Softdrinks gilt, zeige aber, dass die meisten Hersteller tatsächlic­h ihre Rezepturen geändert und nicht die Preise erhöht hätten. Natürlich werde es einen Aufschrei geben wie beim Rauchverbo­t in Kneipen, sagte der Arzt und Wissenscha­ftsjournal­ist Eckart von Hirschhaus­en. Aber so wie fast niemand das Rauchen in Kneipen vermisse, würden sich alle daran gewöhnen, wenn nur noch halb soviel Zucker in der Limo sei.

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Foto: dpa/Jens Kalaene Die Diabetes-Rate bei Kindern steigt seit Jahren – mit allen Folgeersch­einungen dieser Krankheit.

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