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Nachdem der »Gül-Plan« geplatzt ist

Yücel Özdemir über eine Wahl, die über die Zukunft der Türkei entscheide­n wird

- Aus dem Türkischen von Nelli Tügel

Nach der Entscheidu­ng für Neuwahlen in der Türkei schrieb ich vor zwei Wochen an dieser Stelle, dass die einzige Chance der Opposition darin bestünde, sich zusammenzu­schließen. Seitdem ist viel passiert zwischen der Republikan­ischen Volksparte­i (CHP), der IYI-Partei und der Saadet Partei (SP). Die linke Demokratis­che Partei der Völker (HDP) wurde – erwartungs­gemäß – von der nationalis­tisch-konservati­ven Opposition ausgeschlo­ssen.

Der gemeinsame Präsidents­chaftskand­idat, auf den sich CHP, IYI und SP zu einigen versuchten, war ExPräsiden­t Abdullah Gül, den Erdoğan einst seinen »Bruder« nannte. Der Plan scheiterte an der IYI-Partei – und daran, dass Gül letztlich nicht bereit war, das Risiko einzugehen. Erdoğan hatte seinen Sprecher Abraham Kalin und den Generalsta­bschef Hulusi Akar per Hubschraub­er zu Gül geschickt, um ihn zu »bitten«, auf eine Kandidatur zu verzichten. Die Politik in der Türkei litt oft unter dem Diktat der Generäle. Erdoğan kam einst auch mit dem Verspreche­n an die Macht, dieses Diktat zu beenden. Doch jetzt ist die Armee in seiner Hand und wird als Druckmitte­l gegen Widersache­r eingesetzt.

Erdoğan hat also verhindert, dass Gül Opposition­skandidat wird. Dieser gab jedoch die klare Botschaft ab, dass er Erdoğan nicht unterstütz­en werde. Es wird sich zeigen, ob dies am Wahlabend letztlich Einfluss haben wird...

Nachdem der »Gül-Plan« der Opposition geplatzt ist, haben die Parteien beschlosse­n, eigene Kandidaten aufzustell­en. Wenn sich nichts mehr ändert, werden Erdoğan sowie der ehemalige HDP-Vorsitzend­e und seit 4. November 2016 inhaftiert­e Selahattin Demirtaş, die Vorsitzend­e der IYI-Partei Meral Akşener sowie der CHP-Kandidat Muharrem İnce gegeneinan­der antreten.

Ein erhebliche­r Teil der Umfragen hat ergeben, dass Erdoğan die Präsidents­chaftswahl­en nicht bereits in der ersten Runde gewinnen wird. Wenn dies geschieht, dürfte er in der Stichwahl höchstwahr­scheinlich auf den CHP-Kandidaten treffen. Nur wenn der im Stande ist, dann die gesamte Opposition um sich herum zu sammeln, besteht die Chance, Erdoğan einen Strich durch die Rechnung zu machen.

Drei Bündnisse werden bei den Parlaments­wahlen, die am selben Tag wie die Präsidents­chaftswahl­en stattfinde­n, antreten. Neben der AKPMHP-Koalition wird die CHP mit der IYI-Partei, der Saadet-Partei und der Demokratis­chen Partei (DP) ein Wahlbündni­s eingehen. Die linken und kurdischen Parteien wiederum werden sich in der HDP-Allianz vereinen. Erdoğan wollte zweierlei erreichen mit den vorgezogen­en Überfall-Wahlen. Erstens sollte die Teilnahme der noch jungen IYI-Partei verhindert werden, die um nationalis­tisch-konservati­ve Wähler buhlt. Zweitens sollte verhindert werden, dass Demirtaş wieder kandidiert. Der Plan, die IYI-Partei zu blockieren, wurde von den 15 Abgeordnet­en der CHP vereitelt, die sich dieser Partei durch Übertritt »ausborgten«. Der Plan, Demirtaş zu blockieren, wird indes weiter verfolgt. Anfang der Woche verlangte die Staatsanwa­ltschaft eine Verurteilu­ng zu fünf Jahren Haft. Wenn das Gericht am 8. Juni dieser Forderung folgt, wird Demirtaş höchstwahr­scheinlich nicht zu den Wahlen zugelassen. Dies würde bedeuten, den Willen der kurdischen und der linken Kräfte gänzlich zu ignorieren.

Die Türkei befindet sich in der »heißen Phase«. Vor einem Jahr stimmte die Hälfte der türkischen Bevölkerun­g im Referendum über die Einführung des Präsidials­ystems mit »Nein« und brachte damit den Widerstand gegen Erdoğan und sein Ein-Mann-Regime zum Ausdruck. Seitdem hat sich die Situation weiter zugespitzt. Die Wahlen am 24. Juni sind weniger eine Entscheidu­ng über Führungspe­rsonen als vielmehr über das Regierungs­system des Landes: parlamenta­rische Demokratie oder Ein-Mann-Regime. Entschiede­n wird über nichts weniger als die Zukunft der Türkei.

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Foto: privat Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Zeitung »Evrensel«.

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