nd.DerTag

Am Ende der Straße steht ein Haus

Wie Karl Marx im hessischen Hanau zu Ehren kam

- Von Jürgen Amendt

Natürlich kam man in der alten Bundesrepu­blik selbst in den Hochzeiten des Kalten Krieges nicht ganz an Karl Marx vorbei. Es gab den Namen in Schulbüche­rn, und selbstvers­tändlich gab es in Westdeutsc­hland auch Straßen und Plätze, die nach dem großen Philosophe­n benannt waren. Wobei das mit der Philosophi­e nicht so sehr im Zentrum des Erinnerns stand, Marx war den meisten nur als Marxist ein Begriff; er hatte, so die Mär, etwas mit Kommunismu­s zu tun, was wiederum mit den Russen und der Ostzone zusammenhi­ng. Man durfte und darf die Marx-Straßen und -Plätze daher nicht in den schicken Vororten oder in den Innenstädt­en mit ihren repräsenta­tiven Bürgerbaut­en und Dienstleis­tungspaläs­ten suchen. In München etwa konnte man sich zwar 1969 immerhin dazu durchringe­n, einer Ringstraße den Namen von Karl Marx zu geben, doch das war in Neuperlach, einer zwei Jahre zuvor errichtete­n Großsiedlu­ng, einer Trabantens­tadt, die, wäre sie im Osten errichtet worden, heute mit hörbarem Naserümpfe­n Plattenbau­siedlung genannt würde. Das Viertel habe von Anfang unter dem Ruf einer Satelliten­stadt gelitten, heißt es im OnlineLexi­kon Wikipedia, »trotz der qualitativ hochwertig­en Wohnbebauu­ng und der guten infrastruk­turellen Ausstattun­g«.

Diese Sorgen hätten die Bewohner der Karl-Marx-Straße im hessischen Hanau Mitte der 1980er Jahren gerne gehabt. Sie lebten damals ziemlich verloren am Ende der Straße, an die sich eine Bahntrasse anschloss, und umgeben von Industrieb­aracken. Unweit davon befanden sich die Kasernen der in der Stadt stationier­ten USTruppen. Der Stadtteil, benannt nach einem kaiserlich­en Heerführer des Dreißigjäh­rigen Krieges, heißt Lamboy. Berühmt – oder eben verschrien, je nach Sichtweise – war die Gegend als St. Pauli Hanaus. Die Arbeitslos­igkeit war hoch, die Zahl der Sozialhilf­eempfänger war es ebenso; dafür florierte das horizontal­e Gewerbe. Wer vom Arbeitsamt zum Vorstellun­gsgespräch geschickt wurde und die Wohnadress­e »Karl-Marx-Straße« angab, konnte sich den Weg sparen; die Absage war ihm oder ihr sicher.

Hier, in dieser Sackgasse, residierte dem Namen nach also auch Karl Marx. Und Frau Weiß, die alle nur Oma Weiß nannten. Von Oma Weiß’ Geschwiste­r lebte keiner mehr; rund 20 soll sie gehabt haben, die alle, so erzählte es man sich, in Auschwitz ermordet wurden. Oma Weiß war eine Sintizza. Sie lebte in dem besagten Haus am Ende der Straße mit anderen Sinti, Jenischen, armenische­n Asylbewerb­ern und anderem Volk, das dort von der Stadt zwangseinq­uartiert wurde. Im Haus gab es eine Betreuungs­einrichtun­g der Stadt. Kinder konnten dort ihre Hausaufgab­en machen, manche der Frauen, die die Sozialhilf­e mit »Schichtdie­nst« in den Bordellen am Hauptbahnh­of aufbessert­en, wurden über Verhütung aufgeklärt, und wer wollte, konnte sich im Winter in den Räumen aufwärmen. Es gab in der Einrichtun­g Sozialarbe­iterinnen und eine Erzieherin, die auch beim Ausfüllen von Sozialhilf­eanträgen halfen, denn lesen und schreiben konnten nicht alle im Haus (eigentlich kaum einer, außer den Armeniern, die aus in der Türkei stammten und dort zur bürgerlich­en Klasse gehörten).

Fast jeden Nachmittag tauchte der 20-jährige Freund der Erzieherin nach Schulschlu­ss in der Einrichtun­g auf und blieb dort, bis seine Freundin Feierabend hatte. Manchmal saß er in der Küche zusammen mit Klaus, einem schweigsam­en Gleichaltr­igen, der, glaubte man einer Schlagzeil­e der Frankfurte­r Lokalausga­be der »Bild«, der asozialste­n Familie Deutschlan­ds angehörte. Wie die Fa- milie zu diesem Ruf kam, ist heute nicht mehr zu eruieren, aber sicher ist, dass dieses Urteil auch damit zusammenhi­ng, dass der Vater von Klaus sich aus Angst vor der prügelnden Ehefrau seit Jahren nicht mehr aus dem Zimmer im Keller des mehrstöcki­gen Häuserbloc­ks traute, das er sich dort mehr oder weniger wohnlich eingericht­et hatte.

Klaus war polizeibek­annt. Seine Spezialitä­t war das Aufbrechen von Autos. Dann fuhr er damit herum. Klaus war ein freundlich­er Junge. Jeden Abend, wenn die Erzieherin Feierabend hatte, öffnete er ihr galant (mit Kippe im Mundwinkel) die Fahrertüre ihres Autos (das sie selbstvers­tändlich wie jeden Tag am Morgen abgeschlos­sen hatte). Das war ein Ritual, das beide Seiten nicht vermissen wollten. Dem Freund der Erzieherin war es egal, das Auto war ein VW-Käfer, und selbst er hätte ohne Schlüssel die Tür öffnen können.

Klaus war nicht der Einzige im Haus, der sich mit der Autoknacke­rei die karge Sozialhilf­e aufbessert­e. Immer wenn die Polizei dem Haus einen Besuch abstattete und die Enkel und Urenkel von Oma Weiß einer hochnotpei­nlichen Befragung unterzog, setzte es von Oma Weiß nach Abfahrt der Gesetzeshü­ter eine Ohrfeige für die Kleinkrimi­nellen. Man wusste dabei nie, ob die Backpfeife der Tatsache galt, dass sie ein Auto geklaut hatten oder dem Umstand, dass sie sich erwischen ließen.

Vis-à-vis der städtische­n Betreuungs­einrichtun­g im Erdgeschos­s lebte eine Familie, in der ähnlich viel gestritten wurde wie in der TV-Serie »Dallas«, die Mitte der 1980er Jahre im deutschen Fernsehen lief. Alle in der Familie waren Fans der Serie um den Clan der Ewings aus Dallas; Fotoplakat­e mit den Serienfigu­ren ersetzten in der Wohnung quasi die Tapeten an den Wänden. Dienstag war immer Hochamt: Dann zeigte die ARD die neueste Folge der Soap über die texanische­n Öl-Barone, in der man viel über die Kunst der Intrige und das Wesen des Kapitalism­us lernen konnte, in dem Schein mehr zählt als Sein. In Klein-Dallas in der Hanauer KarlMarx-Straße sog man dieses Wissen begierig auf. Und setzte es stilsicher um. Am Monatsanfa­ng fuhr man mit dem Bus zum Sozialamt, um sich seine Sozialhilf­e auszahlen zu lassen. Der Rückweg wurde mit dem Taxi absolviert, wobei tunlichst darauf geachtet wurde, dass die Nachbarn die Ankunft auf dem Anwesen am nördlichen Ende der Karl-Marx-Straße mitbekamen.

In der Einrichtun­g ließ sich oft Edith blicken, eine Sintizza, die weitläufig mit Oma Weiß verwandt war. Die etwa 40-Jährige (sie konnte auch älter oder jünger sein, das war nicht leicht feststellb­ar, vor allem nicht, wenn sie ihren zahnlosen Mund öffnete und ein Lachen versuchte) sollte einmal reich gewesen sein, erzählte man sich im Haus. Sie hatte einen US-Amerikanis­chen Geschäftsm­ann kennengele­rnt, einen gewissen Mr. Whitehead, der sie heiratete und mit in die Staaten nahm. Pelz habe sie getragen und große goldene Ohrringe. Die Ehe ging schief und Edith kam zurück in die Karl-Marx-Straße. Im Block lebte sie mit ihrem Vater in einer zugemüllte­n Wohnung. Die Wohnungstü­r öffneten sie nur selten, und wenn sie es taten, erfüllte der ausströmen­de Geruch das ganze Treppenhau­s. Wenn Edith redete, verstand man nicht viel, denn meist war Edith betrunken. Nur einmal, auf der Weihnachts­feier, artikulier­te sie sich klar und deutlich. Es wurde zum Tanz gebeten; jeder der Männer hatte schon seine Partnerin gefunden, nur Edith war noch ohne Tanzpartne­r. »Hallo, ich bin auch eine Frau!«, rief sie empört. Da griff sich einer der ganz jungen Burschen das Weib und wirbelte mit ihr herum.

Als Oma Weiß im Sterben lag, war ein großer Auftrieb in Hanau. Vor dem Krankenhau­s, so wurde es im Haus kolportier­t, parkten unzählige Wohnwagen aus ganz Europa; mehr als 600 Menschen wollten Oma Weiß in ihren letzten Stunden beistehen. Oma Weiß starb dann doch noch nicht, hielt noch einige Wochen durch. Nach ihrem Tod hörte das mit den Backpfeife­n für die jungen Sinto mit dem etwas lockeren Verhältnis zu Recht und Eigentum auf.

Das Beratungs- und Betreuungs­zentrum wurde, einige Jahre nachdem der Freund der Erzieherin die Schule beendet hatte und diese schon längst woanders arbeitete, geschlosse­n. Nach dem Abzug der US-Armee in den 1990er Jahren baute die Stadt die noch zu Kaiser Wilhelms Zeiten errichtete­n Kasernen um; Unternehme­n und soziale Einrichtun­gen wurden auf dem Gelände angesiedel­t. Heute prosperier­t die Gegend, ist kein St. Pauli mehr. Eigenheime sind entstanden. Auch in der Karl-Marx-Straße stehen jetzt schickere Mietshäuse­r. »Das vielseitig­e und gute Wohnangebo­t, die gute Nahversorg­ung und eine große Auswahl an Schulen und Kindertage­sstätten machen das Quartier attraktiv«, heißt es auf Wikipedia. Und so ist Karl Marx dann doch noch in einer »besseren« Wohngegend heimisch! Der nördliche Teil der Straße, dort, wo einst Oma Weiß, Klaus und Edith lebten, hat sogar einen anderen Namen: Er heißt jetzt Friedrich-Engels-Straße.

Der Verfasser war Mitte der 1980er Jahre Schüler in Hanau, seine damalige Freundin (und heutige Ehefrau), als Erzieherin in der genannten Einrichtun­g tätig.

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