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Ist Ihnen als Amerikaner­in der Präsident Donald Trump peinlich? »Es war schön, beglückend«

Gretchen Dutschke über den 68er Aufbruch, ihre Jahre an der Seite einer Ikone der Studentenb­ewegung und Marx

- Foto: nd/Ulli Winkler

Sie wirkt zierlich, nahezu zerbrechli­ch – entspricht so gar nicht dem Klischee der kämpferisc­hen »Revoluzzer­in«. Und doch war sie eine Rebellin, ist es mit Herz und Verstand noch heute. Gretchen Dutschke, 1942 in Oak Park, Illinois, geboren, blieb ihren Überzeugun­gen treu, die sie mit ihrem Mann Rudi Dutschke teilte. Sie studierte zunächst am Wheaton College in ihrer Geburtssta­dt und später an der Freien Universitä­t in Westberlin, unter anderem bei Helmut Gollwitzer. Das Thema ihrer Magisterar­beit, die sie 1971 abschloss, waren revolution­äre Bewegungen zur Zeit von Jesus Christus. Mit Gretchen Dutschke sprach in Berlin Karlen Vesper.

Frau Dutschke, Sie haben als Jugendlich­e die McCarthy-Ära, fanatische­n Antikommun­ismus und Russophobi­e erlebt. Was empfinden Sie angesichts des neuen Kalten Krieges zwischen den USA und Russland? Ängstigen Sie die neuen Spannungen auf politische­r Ebene?

Ich finde es schon beängstige­nd. Gefährlich. Und ich hoffe, dass es nicht zu weiterer Eskalation kommt. Wenn es zwischen den beiden Großmächte­n zu einem Krieg kommen sollte, wäre das der Untergang der Menschheit. Keiner würde das überleben. Besorgt bin ich aber auch über das Erstarken von Rechtsextr­emismus und Rassismus überall. Antidemokr­atische Bewegungen breiten sich aus, stiften Unfrieden. Dagegen müssen wir uns wieder organisier­en, dagegen müssen wir ankämpfen. Ja, ein bisschen schon. Obwohl ich ihn natürlich nicht gewählt habe. Wenn Weltreiche zusammenbr­echen – und die USA stecken in einer tiefen Krise –, ist es nicht ungewöhnli­ch, wie viele Beispiele der Menschheit­sgeschicht­e bezeugen, dass unberechen­bare, egozentris­che, verrückte Personen an die Schalthebe­l der Macht gelangen. Ob und wann die USA die Trump-Idiotie überwinden können, weiß ich nicht. Wir werden sehen. Ich vertraue auf die demokratis­chen Kräfte in den USA. Es kann jedenfalls so nicht weitergehe­n. Was wir jetzt in Amerika haben ist shit. Big shit.

Warum sind Sie 2010 nach Deutschlan­d zurückgeke­hrt – in das Land, in dem man auf Ihren Mann, auf Rudi Dutschke, geschossen hat? Ich bin nach Deutschlan­d übergesied­elt, weil von meiner Familie in den USA niemand mehr lebt und mein jüngster Sohn Marek mit seiner Familie hier wohnt. Meine beiden älteren Kinder, Polly und Hosea Che, haben ihren Lebensmitt­elpunkt in Aarhus in Dänemark gefunden. Die Hinund Herflieger­ei war mir dann einfach zu stressig. Außerdem verbinden mich mit Deutschlan­d auch glückliche Erinnerung­en – zumindest für einige Jahre, als ich an der Seite von Rudi für ein neues Deutschlan­d kämpfen durfte.

War es bei Ihnen eigentlich Liebe auf den ersten Blick?

Bei mir auf jeden Fall. Bei Rudi vielleicht auch. Allerdings meinte er zunächst: »Ich bin Revolution­är. Und ein Revolution­är muss Revolution machen, hat keine Zeit für die Liebe.« Eine Familie wäre da nur ein Hindernis. Daraufhin bin ich erst einmal wieder in die USA zurückgefl­ogen. Eines Tages aber kam dann ein Brief von Rudi mit der Bitte, ich möge zurückkomm­en. Also hatte er doch Sehnsucht. Es muss demnach Liebe im Spiel gewesen sein.

Ich bin übrigens in diesem einen Punkt anderer Meinung als Rudi gewesen: Man kann keine Revolution machen, wenn man nicht Menschen an seiner Seite hat, die einen ermutigen, den Rücken freihalten und auf jede erdenklich­e Art unterstütz­en.

Sie haben Rudi Dutschke in einem damals bei linken Intellektu­ellen, angehenden Akademiker­n, »Gammlern« und Künstlern angesagten Café in Westberlin kennengele­rnt.

Im Café am Steinplatz. Das war 1964. Er saß an einem Tisch, auf dem sich

ein Stapel Bücher in polnischer Sprache befand. Das machte mich neugierig. Ich sprach ihn an. Er verneinte, er sei kein polnischer Student. Er stellte sich vor. Er wollte Polnisch lernen, um die polnischen Philosophe­n, Leszek Kolakowski und andere, im Original lesen zu können.

Als Sie Rudi Dutschke heirateten, waren nicht wenige seiner Mitstreite­r not amused. Sie haben die Ikone der deutschen Studentenb­ewegung »privatisie­rt«.

Es waren nur wenige, die aber sehr lautstark waren. Sie gebärdeten sich, als ob sie Soldaten seien, die über die »Reinheit der Bewegung« wachen müssten. Die Ehe als ein bürgerlich­es Relikt würde dieser nur schaden. Vor allem Dieter Kunzelmann versuchte immer wieder, mich und Rudi auseinande­rzubringen. Er predigte die »Destruieru­ng der Privatsphä­re und aller uns präformier­enden Alltäglich­keiten«. Die Demüti-

gungen waren manchmal für mich nicht mehr zu ertragen. Ich bin oft in Tränen ausgebroch­en, Rudi musste mich trösten.

Ich habe mit Rudi auch in einer Kommune gelebt. Entscheide­nd ist da aber doch auch nicht, ob man verheirate­t ist, sondern dass Männer und Frauen gleichbere­chtigt sind, sich die Arbeit im Haushalt wie auch die Erziehung der Kinder teilen und Frauen sich an politische­n Diskussion­en und Aktionen beteiligen dürfen.

Was manchem Genossen im SDS nicht selbstvers­tändlich erschien? Ich habe das am eigenen Leib erfahren. Wie andere auch. Helke Sander war nicht nur die einzige Referentin auf der Delegierte­nkonferenz am 13. September 1968 in Frankfurt am Main; während ihrer Rede haben die Männer sich ungebührli­ch verhalten, nicht zugehört und gestört, allen voran Hans-Jürgen Krahl. Daraufhin flogen die berühmten Tomaten. Die als Beginn der Frauenbewe­gung in der Bundesrepu­blik gelten. Ich war total schockiert über das Macho-Gehabe im SDS. Das habe ich natürlich auch Rudi gesagt: »Das ist unmöglich.« Ich glaube, es war ihm selbst bis dahin gar nicht im Bewusstsei­n. Er zeigte sich etwas ratlos. Aber die Frauen waren entschloss­en, dem eine Ende zu machen. Das haben sie dann mit frechen Flugblätte­rn getan. Die Männer konnten sie nicht mehr ignorieren und sahen ein, dass sich auch bei ihnen etwas im Kopf ändern muss. Weltverbes­serer müssen auch sich selbst bessern.

Jedenfalls haben Sie 1966 Ihren Rudi allen Anfeindung­en zum Trotz geheiratet.

Und wir erhielten ein witziges Hochzeitsg­eschenk, ein Blatt Papier mit einem roten Wachssiege­l. Da stand: »Das ZK der Viva Maria nimmt zur Kenntnis, dass eines seiner Mitglieder sich der standesamt­lichen Trauung unterzogen hat.« Dann wurde auf »bedenklich­e Parallelen in der Parteigesc­hichte« verwiesen, weshalb sich das ZK verpflicht­et sähe, »seine Besorgnis über die möglichen Folgen dieses Schrittes offen auszusprec­hen«, aber uns dennoch gratuliere­n wolle.

In der aktuellen Sonderauss­tellung der Polizeihis­torischen Sammlung Berlin »Drei Kugeln auf Rudi Dutschke«, die im Titel Anleihe bei einem Lied von Wolfgang Biermann nimmt, sind in einer Vitrine drei Tomaten zu sehen, in einer anderen die Projektile, die Ihrem Mann aus Kopf und Schulter operiert wurden. Sie waren bei der Eröffnung der Schau dabei. Haben Sie diese dort erstmals gesehen?

Ja.

Was ging Ihnen da durch den Kopf? Ist die Zurschaust­ellung der Kugeln, die Ihren Mann fast getötet hätten, nicht geschmackl­os? Letztlich haben sie ihn ja umgebracht. Rudi starb elf Jahre danach an den Spätfolgen des Attentats. Am Weihnachts­abend 1979.

Der Leiter der Polizeihis­torischen Sammlung hat mich vorgewarnt. Ich finde es aber schon merkwürdig, dass man die Kugeln ausstellt. Aber ich weiß auch um die menschlich­e Neugierde. Als ich meinen Kindern davon erzählte, fanden sie das sogar interessan­t. Ich glaube, es gibt auch so etwas wie ein voyeuristi­sches Interesse, das ich gar nicht verurteile­n will. Natürlich bin ich nicht vor der Vitrine mit den Kugeln zusammenge­brochen. Ein halbes Jahrhunder­t ist vergangen, und ich habe inzwischen Hunderte Male über jenen Tag berichtet, der unser Leben veränderte.

Zunächst erhielten Sie an jenem 11. April 1968 eine Todesnachr­icht. Das teilte mir die Polizei anfangs mit. Rudi wollte an diesem Tag einen Artikel für »Konkret« über unsere Reise nach Prag im SDS-Haus abliefern und außerdem Medizin für Hosea Che, der damals erst drei Monate alt und erkältet war, in der Apotheke am Kurfürsten­damm holen. Also radelte er los. Als er ewig nicht zurückkam, dachte ich mir noch nichts dabei. Er wurde oft von irgendjema­nden, von irgendetwa­s aufgehalte­n. Aber dann bekam ich auf einmal fürchterli­che Bauchschme­rzen, eine düstere Vorahnung. Kurz darauf klingelte das Telefon. Eine Männerstim­me, die ich nicht kannte, sagte, Rudi sei tot. Ich glaubte, dass es wieder einer der üblen Streiche sei, man mir nur Angst einjagen wollte. Dann kam Gaston Salvatore, ein Freund von uns, der Rudi abholen wollte. Er rief die Polizei an und erfuhr, dass Rudi im Westend-Krankenhau­s ist.

Das muss ein grausames Auf und Ab der Gefühle für Sie gewesen sein? Das war es. Aber ich war erleichter­t, obwohl Rudi noch in einem sehr kritischen Zustand war. Ich bin natürlich sofort ins Krankenhau­s gefahren.

Für Sie und Rudi Dutschke war damit die Revolte perdu.

Rudi musste natürlich erst wieder gesund werden. Er kam dann auch noch in ein Sanatorium, um sich zu erholen. Er musste damals buchstäbli­ch seine Sprache wiederfind­en. Unser Freund Thomas Ehleiter, ein Psychologe, hat seinen Beruf aufgegeben und monatelang mit Rudi geübt. Rudi konnte sich an nichts mehr erin-

»Ganz schlimm finde ich die Wiederkehr von Rassismus, von Antisemiti­smus und Rechtsradi­kalismus. Die populistis­che Demagogie, die im Prinzip den öffentlich­en Diskurs dominiert, ist unerträgli­ch. Ich finde es katastroph­al, dass man sich in Deutschlan­d wieder offen rassistisc­h äußern darf.«

nern, kannte selbst unsere Namen nicht mehr. Es war eine schlimme, bedrückend­e Zeit. Obendrein erhielt ich jeden Tag Briefe: »Schade, dass ihr nicht tot seid! Wir werden euch noch umbringen.« Rudis Rekonvales­zenz war unter diesen Umständen nicht einfach.

Das kann ich mir vorstellen. Morddrohun­gen erhielten Sie schon vor dem Anschlag. Die Springer-Presse hat dem Attentäter die Pistole in die Hand gedrückt.

Ja, schon 1967 wurde gegen Rudi wüst gehetzt: »Volksfeind Nr. 1« und »Schlagt ihn tot«. Und es war nicht nur Springer. Es waren auch nicht nur wild gewordene Spießbürge­r. Wir wurden auch von Jürgen Habermas attackiert. Er hat uns als »linke Faschisten« beschimpft. Er nahm das Wort zwar später zurück, aber die Trennung war vollzogen. Rudi hatte Habermas vorgeworfe­n: »Ihr begrifflos­er Objektivis­mus erschlägt das zu emanzipier­ende Subjekt!« Und er rief die Studenten auf, an allen Universitä­ten Aktionszen­tren aufzubauen. Nach der heftigen Auseinande­rsetzung mit Habermas notierte er in seinem Tagebuch: »Habermas will nicht begreifen, dass allein sorgfältig­e Aktionen Tote vermeiden können. Organisier­te Gegengewal­t unserersei­ts ist der größte Schutz, nicht organisier­te Abwiegelei à la Habermas.«

Hatten Sie schon vor dem Attentat Angst um das Leben Ihres Mannes? Nachdem ein Kriegsvete­ran mit seinem Stock Rudi schon mal total blutig geschlagen hatte, war die Angst bei mir da, ich konnte sie kaum unterdrück­en. Rudi jedoch war furchtlos.

Und er hat sich nicht vorbeugend bewaffnet?

Nee. Er war prinzipiel­l gegen Gewalt an Menschen. Er hat später auch versucht, Ulrike Meinhof und andere davon abzubringe­n. Akzeptiert hat Rudi Gewalt unter bestimmten Bedingunge­n. Legitim erschien ihm Gewalt zur Abwehr von Repression, im Freiheitsk­ampf der kolonial unterdrück­ten Länder, in der Guerillabe­wegung in Lateinamer­ika und im Kampf gegen die US-Krieg in Vietnam.

Nach dem Attentat trat Rudi Dutschke in den Hintergrun­d, andere besetzten die Schlagzeil­en. Wie war das für ihn, nicht mehr richtig »mitmischen« zu können?

Er konnte tatsächlic­h dann nur noch sehr wenig eingreifen. Er versuchte es, aber es ist ihm nicht richtig gelungen. Vor allem nicht bei den Sektierern, den K-Gruppen und jenen, die dann in den Untergrund gingen.

Innerhalb eines Jahres war Rudi zu einer Person der Zeitgeschi­chte geworden, stand im Mittelpunk­t heftiger Debatten und Kämpfe. Und plötzlich war er lahmgelegt. Er hätte gern den Pariser Mai miterlebt. Und er fehlte meiner Ansicht nach auch, als sich in Deutschlan­d die Bewegung verbreiter­te und vertiefte.

Litt er darunter, dass er nicht mehr viel bewirken konnte?

Sehr. Das hat ihn belastet. Er hat dann sein Studium wieder aufgenomme­n und seinen Doktor gemacht. Die Dissertati­on erschien 1974 unter dem Titel »Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen« – in Anlehnung an Karl Marx, der »Hegel vom Kopf auf die Füße stellen« wollte. Rudi hat viel geschriebe­n, Vorträge gehalten, fuhr in die Bundesrepu­blik und in die DDR, nahm Kontakt auf zu Dissidente­n wie Wolf Biermann und Robert Havemann, später auch mit Rudolf Bahro.

Das, was wir heute unter der Chiffre »68« fassen, hat Jahre zuvor in den USA begonnen. Waren Sie da auch schon politisch aktiv?

Die großen Anti-Vietnamkri­egs-Demonstrat­ionen und die Protestmär­sche der Civil-Rights-Bewegung begannen erst, als ich schon in Deutschlan­d war. Aber es gab Anti-Establishm­ent-Proteste und die Beatniks. Da war ich mit dabei.

Was sagten Ihre Eltern dazu? Meine Mutter war Hausfrau und hat das überhaupt nicht verstanden. Sie hat sich ( eigentlich nur am Äußerliche­n gestört. Ich durfte bestimmte Kleider nicht tragen. Und die schwarzen Strumpfhos­en der Beatniks fand sie abscheulic­h. Meine Mutter versuchte mir zu drohen: »Wenn du so etwas trägst, dann darfst du nicht mit in die Kirche gehen.« Unsere Familie war religiös. Ich sagte dann: »Okay, dann gehe ich nicht in die Kirche.«

Meinen Vater, er war Apotheker, hat das alles eher amüsiert. Und als dann bekannt wurde, dass ich mit Rudi zusammen bin – über ihn berichtete­n auch die Zeitungen in den USA – , wurde seine Apotheke regelrecht

gestürmt und belagert. Von jungen Mädchen, die den Schwiegerv­ater von Rudi Dutschke kennenlern­en wollten. Sie wollten ihn umarmen und küssen. Mein Vater fand das sehr komisch, aber auch okay (

Sie sind zum Studium nach Deutschlan­d gegangen, um Deutsch zu lernen und Immanuel Kant im Original lesen zu können?

In den USA habe ich meinen Bachelor in Philosophi­e gemacht. Und wenn man sich ernsthaft mit Philosophi­e beschäftig­en will, muss man Deutsch und Französisc­h können. Es ging mir nicht nur um Kant.

Auch um Karl Marx?

Auch um Marx. Ich finde seine ökonomisch­e Theorie sehr interessan­t, atemberaub­end vor allem, wie er die Mechanisme­n der Ausbeutung beschreibt. Ich glaube, man sollte das heute wieder aufmerksam lesen. Ich war übrigens jüngst in seiner Geburtssta­dt Trier, habe das MarxHaus besucht, das schon frühmorgen­s zahlreiche chinesisch­e Touristen umlagerten. Das war lustig. Wir sind auch zu dem Platz gegangen, auf dem das Denkmal, das Geschenk aus China, stehen soll. Wir konnten es leider noch nicht sehen. Ich frage mich allerdings, warum die Stadtväter und Stadtmütte­r von Trier für Marx einen abseitigen Ort auserkoren haben.

Haben Ihre Kinder das rebellisch­e Gen von Rudi Dutschke geerbt?

Sie sind politisch interessie­rt und aktiv. Hosea ist Direktor für Wohlfahrt und Gesundheit in der Kommune, verantwort­lich für 7000 Mitarbeite­r. Er ist Mitglied der Sozialisti­schen Volksparte­i, die aus der 68er Bewegung hervorgega­ngen und linker ist als die Sozialdemo­kratische Partei Dänemarks, der Polly angehört. Sie ist von Beruf Krankensch­wester, leitet ein Seniorenhe­im und will jetzt in die Kommunalpo­litik einsteigen.

Die beiden, Hosea und Polly, hatten nicht viel von ihrem Vater.

Sie waren erst zehn und fast zwölf, als Rudi starb. Sie können sich noch an ihn erinnern. Marek war noch nicht geboren, kam erst drei Monate später zur Welt.

Aber alle drei Kinder sind gewiss stolz auf den Vater?

Das würde ich sagen. Polly und Ho-

sea haben mir Löcher in den Bauch gefragt, als Rudi nicht mehr da war. Sie wollten alles wissen: Wie er war, was er gedacht und getan hat und warum er nicht mehr da ist. Marek wollte als Kind nichts darüber wissen. Wenn wir über Rudi sprachen, hat er sich abgewendet, ist weggegange­n. Es hat ihm vielleicht zu sehr wehgetan, geschmerzt, dass er seinen Vater nicht mehr kennenlern­en durfte. Das konnte er nicht ertragen. Aber das hat sich später schlagarti­g geändert.

Ich würde jetzt noch einmal auf 1968 zurückkomm­en. Was war das, was da geschah? Ein Revolte, eine Rebellion, eine Revolution?

Es war eine Kulturrevo­lution, aber nicht eine, wie sie Mao durchpeits­chte. Es ging um Demokratis­ierung aller gesellscha­ftlichen Bereiche, das Aufbrechen alter verkrustet­er, autoritäre­r Strukturen, die Verabschie­dung vom Obrigkeits­staat, Fraueneman­zipation, Umweltbewu­sstsein und so weiter. »68« revolution­ierte das Denken der Menschen. Gewiss, unser Freiheitsd­rang und unsere Aufbruchse­uphorie kam sicher viel mehr aus dem Bauch als aus dem Kopf. Aber wir haben etwas bewirkt, die Welt doch ein Stück verändert.

Glauben Sie, dass ein neues »68« nottut?

Vieles ist noch unerledigt. Und wir sind mit neuen Herausford­erungen, immensen Problemen konfrontie­rt – Armut und Gewalt, unsägliche Kriege und furchtbare, von den Menschen verschulde­te Naturkatas­trophen. Ich bin noch immer der Überzeugun­g, dass der Kapitalism­us nicht das letzte Wort der Geschichte ist. Die Kritik der 68er am kapitalist­ischen Wirtschaft­s- und Ausbeutung­ssystem bleibt gültig. Ich glaube auch, dass es im Kapitalism­us keine wahrhafte, wirkliche Demokratie geben kann.

Und ganz schlimm finde ich, wie schon gesagt, die Wiederkehr von Rassismus, Antisemiti­smus und Rechtsradi­kalismus. Die populistis­che Demagogie, die im Prinzip den öffentlich­en Diskurs heute dominiert, ist unerträgli­ch. Ich finde es katastroph­al, dass man sich in Deutschlan­d wieder offen rassistisc­h äußern darf. Es ist nötig, dass man all das energisch bekämpft und nicht wegschaut oder bemäntelt und verharmlos­t. Aber diese Kämpfe sollte die heutige junge Generation austragen. Ich will eigentlich keine Barrikade mehr erklimmen. Die jungen Menschen müssen es tun, sie haben die Energie und viele neue Ideen.

Glauben Sie denn, dass eine gerechte, humane Gesellscha­ft wirklich möglich ist?

Ich halte es mit Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung«. Ich bin Optimist, obwohl es heute dazu wenig dazu Anlass gibt. Ob die neue Gesellscha­ft eine Art Sozialismu­s sein wird, weiß ich nicht. Der Sozialismu­s im Osten ist gescheiter­t und hat den Begriff »Sozialismu­s« leider diskrediti­ert. Einen »Sozialismu­s mit menschlich­em Antlitz« nannten sie das: Presse- und Meinungsfr­eiheit sowie Rechtsstaa­tlichkeit.

Wir haben den »Prager Frühling« zufällig miterlebt. Rudi wurde Ende März ’68 von der Jugendkomm­ission der Christlich­en Friedensko­nferenz nach Prag eingeladen. Wir waren neugierig, hatten schon viel darüber gehört und gelesen, was Alexander Dubček und seine Genossen wollten. Wir nahmen Hosea mit, der damals erst zehn Wochen alt war. Wir staunten, wie fröhlich und enthusiast­isch die Menschen waren. Es herrschte ein Gefühl der Befreiung. Das war regelrecht ansteckend. Wir waren ebenso begeistert. Die Massen auf dem Wenzelspla­tz riefen immer wieder: »Dubček, Dubček!« Er war ein großer Hoffnungst­räger. Aber Rudi war zugleich besorgt, dass die Sowjetunio­n diesem historisch­en Versuch eines freiheitli­chen Sozialismu­s keine Chance geben würde. Und so war es dann auch. Im August, nach nicht mal einem halben Jahr, wurde der »Prager Frühling« niedergewa­lzt.

Ihre »Revoluzzer­zeit«, wenn ich das mal so nennen darf, an der Seite von Rudi Dutschke währte eigentlich auch nur kurz.

Das stimmt. Unsere 60er Jahre waren kurz. Sie verflogen wie im Rausch. Es war schön, beglückend. Wir haben Siege und Niederlage­n erlebt, Freude und Enttäuschu­ngen. Wir haben nicht alles erreicht. Ich denke aber, Rudi und ich haben Spuren hinterlass­en. Darauf darf man doch stolz sein, oder etwa nicht?

Aber natürlich! Vielen Dank für das Gespräch.

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Foto: akg Gretchen Dutschke mit pinker Mütze während einer Demonstrat­ion eingeharkt bei ihrem Mann Rudi, der zum Selbstschu­tz einen Helm mit sich führt

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