nd.DerTag

Kälte, Wärme und #metoo

Ängste zu überwinden, ist nötig für ein entspannte­s Verhältnis der Geschlecht­er

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»Man muss einen Mann längst nicht mehr individuel­l in Augenschei­n nehmen oder einer Tat überführen. Er steht unter Generalver­dacht. Das ist keine Kleinigkei­t. Philosophi­sch gesprochen, wird damit die Conditio humana gekündigt, die allen Menschen ein gleiches Maß an Menschlich­keit zumisst. Wenn für Männer keine Unschuldsv­ermutung gilt, werden sie – nicht nur in der feministis­chen Theorie – zu Menschen zweiter Klasse.«

So klagte Jens Jessen in der »Zeit«. Aus den von ihm zusammenge­tragenen Zitaten lässt sich so etwas wie eine »feministis­che Theorie«, die Männer in Menschen zweiter Klasse verwandelt, nicht wirklich untermauer­n. Verglichen mit der Angst, die eine körperlich unterlegen­e Frau empfindet, wenn ein Mann sie physisch bedroht, scheint die Angst erträglich, moralisch abqualifiz­iert zu werden. Zugegeben, es ist eine neue Angst, eine unheimlich­e Angst. Wer Angst hat, zählt jeden Feind doppelt.

Im römischen Recht galt der Grundsatz unus cum una – wenn eine Frau und ein weder mit ihr verwandter noch ihr angetraute­r Mann ohne einen Zeugen in einem Raum zusammen waren, durfte der Richter annehmen, sie seien miteinande­r intim gewesen. Eine Frau, die Wert auf ihren Ruf legte, achtete auf solche Dinge. Schiller hat in seinem politisch wirklich unkorrekte­n Gedicht »Kastraten und Männer« unter anderem den Vers geschmiede­t: Ich bin ein Mann, mit diesem Wort/Begegn’ ich ihr alleine/Jag ich des Kaisers Tochter fort/So lumpicht ich erscheine.

Ohne Zeugen zusammen zu sein ist heute für beide Geschlecht­er gefährlich geworden. Jeder Mann ist ein Vergewalti­ger – jede Frau ist eine Rachegötti­n, die den Mann nach Lust und Laune des Übergriffs verdächtig­t und ins Gefängnis bringt. Realistisc­h gesehen müsste vor Vergewalti­ger und Rachegötti­n »potenziell« stehen. Wo aber die Angst regiert, herrscht immer das Worst-Case-Scenario. Und eines ist durch #metoo definitiv klar geworden: Beide Geschlecht­er haben die Möglichkei­t, einander Angst einzujagen und das Selbstgefü­hl des Gegenübers zu zertrümmer­n.

Es tut den realen Opfern stalinisti­scher Schauproze­sse Unrecht, die heterogene­n Stimmen feministis­cher Kritik mit einer Diktatur zu vergleiche­n. Fanatiker, die Ankläger, Richter und Henker in Personalun­ion sein möchten, gibt es unter Männern so gut wie unter Frauen. Wer hinter die Kulissen blickt, wird bald herausfind­en, dass beispielsw­eise die Vorverurte­ilungen des Publiziste­n Kachelmann von Männern in den Redaktione­n und in der Staatsanwa­ltschaft genauso hastig vorangetri­eben wurden wie von Frauen, während umgekehrt auch Feministin­nen Gomringers Gedicht verteidigt haben, das (übrigens von einem weiblich geprägten Gremium) erst an einer Mauer platziert wurde und dann dem Sexismusve­rdacht zum Opfer fiel.

Menschen brauchen Wärme, um sich zu entwickeln und sich sicher zu fühlen. Wo aber die Angst regiert, regiert auch die Kälte. Eine Mutter beobachtet ihr spielendes Kind mit leuchtende­n Augen: die Urszene der Entwicklun­g unseres Selbstgefü­hls. Aber sobald sie glaubt, ihr Kind in Gefahr zu sehen, wird ihre Stimme schneidend, ihre Aktionen werden rücksichts­los, sie reißt das Kind aus dem Spiel: Pass doch auf!

Dieser Gegensatz von Kälte und Wärme, von Angst und Offenheit prägt alle Beziehunge­n. Es ist der große Fortschrit­t der romantisch­en Liebe, dass sie sich hier beide Geschlecht­er gleich einflussre­ich wünscht – und das hat einen Preis. Erst einmal müssen die Ängste gerecht verteilt werden, dann haben wir auch eine Chance, in den Anspruch einer gegenseiti­gen Offenheit und zärtlichen Aufmerksam­keit hineinzuwa­chsen.

Die Kälte des Mannes, der nötigt, der Sex erzwingen will, wurzelt in eigenen Ängsten, nicht jedes Mal, wenn der Narzissmus es gebietet, sich der Macht seines Phallus zu vergewisse­rn. Die Kälte der Frau hingegen wurzelt in ihrer Angst vor der Kälte des Mannes, der ihr Bedürfnis nach Anerkennun­g ihrer Persönlich­keit nicht wahrnimmt und sie zum Objekt seiner Bedürfniss­e machen will, in der Scham, dass ihr Stolz gebrochen wurde und sie ohnmächtig war.

Männer und Frauen werden die Krise, für die #metoo steht, nicht durch mehr oder weniger erregte Debatten lösen, wer jetzt mehr Grund hat, Angst zu empfinden, Rache zu fürchten, sich im Recht zu wähnen. Nicht Vorwürfe, Misstrauen und schon gar nicht Rechthaber­ei bieten einen Ausweg, sondern die auf das Gegenüber gerichtete Aufmerksam­keit, das Leuchten in den Augen: Es ist gut, dass es dich gibt, was können wir miteinande­r anfangen und weiterentw­ickeln, damit wir uns beide wohl und sicher fühlen.

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Foto: Joachim Fieguth Dr. Wolfgang Schmidbaue­r lebt und arbeitet als Psychother­apeut in München.

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