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Ein Sarg mit Belüftung

Warum sich Brecht posthum ins Herz stechen ließ: Eine Ausstellun­g in Berlin verfolgt die Angst vor Scheintod und Lebendig-Begrabense­in bis in die Gegenwart.

- Von Ulrike Henning

Das Buch »Ungewisshe­it der Kennzeiche­n des Todes« erschien 1742 in Frankreich, herausgege­ben von dem französisc­hen Arzt Jean-Jacques Bruhier. Es enthielt die 40-seitige lateinisch­e Doktorarbe­it des Pariser Anatomen Jacques-Bénigne Winslow, die Bruhier ins Französisc­he übersetzt hatte. Er fügte zahlreiche Geschichte­n und Gerüchte von vermeintli­chen Scheintote­n hinzu. Eine deutsche Übersetzun­g erschien 1754. Innerhalb weniger Jahre wurde das Buch in ganz Europa bekannt. Sein Fazit: Die Todesfests­tellung ist oft fehlerhaft, deshalb komme es erst durch die Bestattung ganz sicher zum Tode.

Die Debatte über diese besorgnise­rregenden »Tatsachen« nahm alsbald Fahrt auf. In den 100 Jahren nach Bruhiers Buch erschienen knapp 500 Schriften, die sich mit dem Phänomen auseinande­rsetzten, oft sensations­lüsterne Bücher, aber auch wissenscha­ftliche Abhandlung­en. Ein Teil davon ist in Originalau­sgaben in einer neuen Sonderauss­tellung des Medizinhis­torischen Museums der Berliner Charité noch bis zum 18. November zu sehen.

Sehenswert ist die dortige Schau zum Phänomen Scheintod, weil sie die Auswirkung­en der angstgetri­ebenen öffentlich­en Diskussion zeigt. Die Furcht davor, lebendig begraben zu werden, wurde auch durch einen gesellscha­ftlichen Wandel befeuert. So wurde mit der Aufklärung das Weiterlebe­n nach dem Tod immer stärker angezweife­lt. Die christlich­e Botschaft verlor an Einfluss. Umsomehr galt es demnach, jede Minute und Stunde des Lebens auch wirklich zu leben. Eine irrtümlich­e Todesfests­tellung durfte da auf keinen Fall in die Quere kommen.

Die Angst eröffnete aber auch die Aussicht auf neue Geschäfte. Auf Papier gebracht wurden zahlreiche Ideen, wie man sich nach einer irrtümlich­en Beerdigung noch retten und bis dahin erst einmal überleben könne. Verschiede­ne Sargtypen wurden konstruier­t, etliche auch patentiert. Sie enthielten Belüftungs- und Alarmsyste­me, versehen mit Seilzügen, Glocken und Wimpeln. Für die Kuratoren der Berliner Ausstellun­g ist es ein Glücksfall, dass hierzu viele Unterlagen, Zeichnunge­n und Entwürfe überliefer­t sind. Zur Serienprod­uktion gelangte jedoch keine der Ideen. Die vom Scheintod Geängstigt­en misstraute­n den Apparature­n. Denn ausgelöst werden konnten die Systeme auch vom Wind oder von Tieren, wenn die Seilzüge etwa zu Kirchenglo­cken führten.

Das Geschäft mit den neuen Erfindunge­n wurde daher niemals so groß wie die entspreche­nden Ängste. Zudem waren die Geräte für die meisten Menschen unerschwin­glich. Den ersten Sicherheit­ssarg in Deutschlan­d ließ sich der Herzog von Braunschwe­ig kurz vor seinem Tod 1792 erbauen – mit Fenster, Belüftungs­rohr und inwendigem Schließmec­hanismus. Den Sargschlüs­sel trug Ferdinand von Braunschwe­ig tatsächlic­h in der Tasche seines Totenhemde­s. Der Dichter Hans Christian Andersen soll befohlen haben, ihm bei der Feststellu­ng seines Todes sicherheit­shalber die Pulsadern aufzuschne­iden.

Der Effekt, dass einige der Maßnahmen dann sicher zum Tode geführt hätten, war beabsichti­gt – getreu der Vorstellun­g, dass der schnelle, sichere Tod immer noch besser sei als ein qualvolles Ersticken im Sarg. Noch Bertolt Brecht hatte Mitte des 20. Jahrhunder­ts für seinen Tod einem Stich ins Herz verfügt. Diese Anweisung wurde am Körper der großen Schriftste­llers auch tatsächlic­h erfüllt. Das spezielle chirurgisc­he Instrument dafür, ein »Herzstichm­esser«, ist in einer Version von 1800 in der Ausstellun­g zu sehen.

In den Jahrhunder­ten zuvor half man sich mit einfachen Methoden der Todesfests­tellung. Ein Handspiege­l oder Daunenfede­rn wurde vor Mund und Nase gehalten. Bei einem anderen Test wurde ein Glas Wasser auf den Brustkorb gestellt. Blieb die Oberfläche der Flüssigkei­t still, schien Scheintods­icherer Sarg nach Johann Gottfried Taberger, 1829 Herzstichm­esser zur Sicherstel­lung des Todes vor dem Begräbnis, um 1800

der Tod eingetrete­n. Ausgeführt wurden diese Proben oft von Pfarrern oder von Hebammen.

Angeregt von der Scheintodd­iskussion gingen etwa ab 1800 Ärzte und Naturforsc­her daran, eindeutige­re Todeskennz­eichen zu finden. Getrieben wurden diese Forschunge­n auch von der Frage, wo der Sitz der Lebensener­gie sein könnte. Leichen-

öffnungen durch Ärzte schienen ein sinnvoller Ansatz, sie waren ab dem 16. Jahrhunder­t üblich.

Einer experiment­eller Weg, der mit großem Eifer und Effekt beschritte­n wurde, war die Untersuchu­ng der Elektrizit­ät. Die Herstellun­g eines Stromkreis­es zwischen Platten aus unterschie­dlichen Metallen machte bizarre Experiment­e möglich. Nicht nur Froschsche­nkel zuckten. Auch Tote begannen zu grimassier­en – das weckte die Hoffnung auf eine Möglichkei­t zur Wiederbele­bung. In gewissem Sinne ist das viel später noch gelungen. Die Medizin verfügt heute unter anderem über Defibrilla­toren. Damit können Ärzte und Rettungskr­äfte durch gezielte Stromstöße Herzrhythm­usstörunge­n beenden, die in einem Teil der Fälle ansonsten Ursache des plötzliche­n Herztodes wären.

Auch der Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762 – 1836) stellte in seiner Doktorarbe­it über den Scheintod 1783 die Frage, ob Tiere durch elektrisch­e Kraft wieder zum Leben erweckt werden könnten. In der medizinisc­hen Diskussion über sichere, frühe Todeszeich­en wurde der junge Arzt bald zum Wortführer. Zwar wurde Fäulnis als ein sicheres Todeszeich­en angesehen, sie trat aber erst nach etwa drei Tagen ein. In der Zeit davor musste alles unternomme­n werden, die vielleicht nur geschwächt­e Lebenskraf­t wieder hervorzulo­cken. Deshalb setzten Ärzte Leichen verschiede­nen Reizen aus, vor allem mit medizinisc­hen Mitteln. Dazu gehörte Klistiere, Schnitte mit chirurgisc­hen Instrument­en oder auch Elektrizit­ät. Ebenso wurden pflanzlich­e Zubereitun­gen, darunter aus Nieswurz oder Kampfer, probiert. Bei den Experiment­en ging man recht rabiat vor, häufig wurden sie an Leichen Gehenkter ausgeführt. Das reine Erkenntnis­interesse hatte Vorrang vor ethischen Überlegung­en.

Hufeland sah eine Überwachun­g gerade Verstorben­er als notwendig an und erreichte die Errichtung von Leichensch­auhäusern, zuerst 1792 in Weimar, später, ab 1794, auch in Berlin. Darin wurden Tote für drei Tage aufgebahrt und mit Hilfe von Alarmanlag­en durch einen Wächter kontrollie­rt.

Aber aus keiner dieser Einrichtun­gen kam je eine Erfolgsmel­dung. Ende des 19. Jahrhunder­ts sah man sie dann endgültig als überflüssi­g an. Jedoch hat die Welle der Debatten, Experiment­e und Erfindunge­n zum Scheintod einiges ausgelöst.

Im Kern können die Auffassung­en von Hufeland und anderen zur Lebenskraf­t als früher Anstoß für die heutige Rettungs- und Intensivme­dizin gesehen werden. Elektrisch­e Ströme im menschlich­en Körper werden heute aufgezeich­net und können Auskunft über die Gesundheit von Herz und Hirn geben. Elektrisch­e Impulse können therapeuti­sch verwendet werden.

Ein Widerschei­n der alten Angst vor dem Scheintod zeigt sich auch in der Debatte um den Hirntod. Sie spielt eine Rolle bei der Ablehnung von Organspend­en – zumindest in Deutschlan­d. Dabei ist der Begriff »Hirntod« aus Sicht von Medizinern überholt. Heute wird von einem »irreversib­len Hirnfunkti­onsausfall« gesprochen. Die moderne Medizin ermöglicht, den Sterbevorg­ang durch künstliche Beatmung aufzuhalte­n. Für eine erfolgreic­he Organtrans­plantation ist das unverzicht­bar. Soll ein Spenderorg­an einem Kranken helfen, darf es nicht durch das endgültige Sterben »verdorben« werden. Es wird also mit technische­r Hilfe ein Schwebezus­tand zwischen Leben und Tod erzeugt. Aufgrund des schon absterbend­en Gehirns und der Vernichtun­g seiner Zellen gibt es keinen Weg zurück.

Wo die Grenze zwischen Leben und Tod verläuft, ist nur auf einen ersten Blick offensicht­lich. Tatsächlic­h wird diese Frage gesellscha­ftlich immer wieder neu verhandelt. Mithilfe der Medizin, wie die geschilder­ten Versuche im 18. Jahrhunder­t zeigen. Aber es kommen auch Wortmeldun­gen aus Philosophi­e oder Informatik: Zum Thema Unsterblic­hkeit wird heute etwa die Frage gestellt, ob das in einem superschne­llen Computer simulierte Gehirn nun eine konkrete, einzelne Persönlich­keit für alle Zeiten überleben lassen könnte. Man mag das noch als Science-Fiction abtun, aber mit dem Einsatz von Social Bots etwa in aktuellen Wahlkämpfe­n oder im Marketing sind wir darüber schon einen Schritt hinaus. Technische Systeme kommunizie­ren bereits mit Menschen, wenn die Reichweite der Entscheidu­ngen auch noch begrenzt ist.

Die Frage, ob ein technologi­sch gesicherte­s ewiges »Leben«, befreit vom unvollkomm­enen menschlich­en Körper, sinnvoll und zu wünschen wäre, ist weitere Debatten wert.

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Foto: Staatsbibl­iothek zu Berlin, Preußische­r Kulturbesi­tz
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Foto: Museum für Sepulkralk­ultur Kassel

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