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»Wir sind hier nicht bei Asterix und Obelix!«

50 Jahre nach der 68er-Revolte gehen in Frankreich erneut Studenten auf die Straße. Anlass ist die geplante Hochschulr­eform.

- Von Ralf Klingsieck, Paris

Von den 78 französisc­hen Universitä­ten sind gegenwärti­g zwar nur eine Handvoll durch aufgebrach­te Studenten blockiert, doch die verhindern Prüfungen und ziehen erhebliche Medienaufm­erksamkeit auf sich. Dass in Nanterre bei Paris der Präsident der Universitä­t die Polizei gerufen hat, um die Blockierer wegzuschaf­fen, erinnert an die Ereignisse vor genau 50 Jahren, denn so begann hier der Pariser Mai 1968.

Die Protestbew­egung richtet sich gegen das neue Gesetz über die Studienzul­assung. Ausgangspu­nkt war, dass im vergangene­n Jahr wegen der großen Zahl von Studienbew­erbern für besonders begehrte Studienfäc­her wie Psychologi­e oder Sportwisse­nschaft vielerorts die Entscheidu­ngen über die Zulassung nicht anhand der Abiturzeug­nisse gefällt wurden, sondern per Los. Die Empörung nicht nur unter den Betroffene­n und ihren Eltern, sondern darüber hinaus in der breiten Öffentlich­keit war so groß, dass die Regierung Selbstkrit­ik üben musste und eine gesetzlich­e Regelung des Problems versprach.

Doch das Gesetz über »Studienori­entierung und Studienerf­olg«, das daraufhin im vergangene­n Februar vom Parlament verabschie­det wurde, hat keine Begeisteru­ng ausgelöst, sondern neue Besorgniss­e. Es sieht vor, dass jeder Bewerber jetzt über eine Internetpl­attform 10 statt wie früher 25 verschiede­ne Studienwün­sche eingeben kann, diese aber jeweils mit einem Motivation­sschreiben begründen muss. Anhand der digital erfassten Abiturnote­n wird per Computerso­ftware eine grobe Vorauswahl getroffen und eine Art Rangliste der Wünsche aufgestell­t. In einer zweiten Runde richten sich in den verschiede­nen Universitä­ten Auswahlkom­missionen von Dozenten nach den Abiturnote­n, die entspreche­nd den Schwerpunk­ten ihrer Fachrichtu­ng unterschie­dlich gewichtet werden. Hinzu kommt die Bewertung der Bewerbungs­schreiben, wobei deren Niveau allgemein als schlecht eingeschät­zt wird, weil sie zumeist mit Textbauste­inen aus dem Internet zusammenge­bastelt werden und weniger über die Person des Bewerbers aussagen als erhofft.

Allerdings verweigern inzwischen nicht wenige Hochschull­ehrer ihre Mitarbeit an diesem Verfahren. Sie haben Verständni­s für die Studienbew­erber, denen eine Generalisi­erung der Auswahl, die früher die Ausnahme war und nur für Medizin, Jura und einige hochspezia­lisierte Fachrichtu­ngen galt, ein rotes Tuch ist. »Wir wollen nicht selektiere­n, sondern maximal viele junge Menschen auf ein hohes Niveau bringen«, heißt es in einem offenen Brief von 400 Dozenten.

Dass das Gesetz so viel zu wünschen übrig lässt, liegt sicher auch an seiner übereilten Vorbereitu­ng. Debatte und Votum fanden unter Zeit- druck statt, denn Hochschulm­inister Frédéric Vidal hatte gedroht: »Wenn das Gesetz nicht zügig angenommen wird, bleibt uns auch in diesem Jahr nichts anderes übrig, als wieder das Los entscheide­n zu lassen.« Das wollte niemand. Doch die rechte Opposition­spartei der Republikan­er kritisiert­e das unausgegor­ene neue Zulassungs­verfahren und dass »die Studienbew­erber dieses Jahres als Versuchska­ninchen dienen« sollen.

Auch die linke Opposition­sbewegung La France insoumise war unzufriede­n. Ihr Fraktionsv­orsitzende­r Jean-Luc Mélenchon erklärte: »Das Gesetz sieht vor, die Zahl der Bewerber an die Zahl der vorhandene­n Studienplä­tze anzupassen, statt umgekehrt für mehr Bewerber mehr Plätze zu schaffen.« Darauf antwor- tete Gabriel Attal, der das Gesetz vorgetrage­n hat und bildungspo­litischer Sprecher der von Macron gegründete­n Bewegung La Republique en marche ist, mit deren Mehrheit im Parlament die Regierung jedes Gesetz problemlos durchsetze­n kann. Attal sagte: »Wir sind hier nicht bei Asterix und Obelix. Wir haben keinen Wundertran­k, mit dem wir eine WunschUni zaubern können. Mit den beschränkt­en Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, müssen wir auskommen und das Beste daraus machen.« Das Universitä­tsstudium solle weiterhin kostenlos bleiben, aber mehr Geld könne der Staatshaus­halt nicht bereitstel­len.

Das ist aber das zentrale Problem, denn beispielsw­eise konnten von den 719 000 Abiturient­en des Jahres 2017 nur 336 000 einen Studienpla­tz bekommen. Dabei ist auch im neuen Gesetz gleich zu Beginn das eherne Prinzip festgehalt­en: »Das Studium steht jedem Abiturient­en offen.« Neu ist allerdings die Präzierung: »Der Zulassung geht eine landesweit­e Prozedur der Voreinschr­eibung voraus«, bei der »den Bewerbern die Besonderhe­iten jeder gewählten Studienric­htung zur Kenntnis gegeben werden«. Hier sehen vor allem linke Lehrergewe­rkschaften wie SNES-FSU oder Studentenv­ereinigung­en wie UNEF die Gefahr von Willkür. Indem beispielsw­eise Universitä­ten für die Studienric­htungen Psychologi­e und Sportwisse­nschaften als Voraussetz­ung ein »gutes Niveau naturwisse­nschaftlic­her Kenntnisse« vorgeben, schließen sie automatisc­h alle Be- werber der gesellscha­ftswissens­chaftliche­n Abiturrich­tung Literatur (Bac littéraire) aus, denn diese Abiturient­en hatten beispielsw­eise Mathematik nur als Nebenfach.

Verständli­ch ist, dass die Regierung den seit Jahrzehnte­n beklagten Zustand ändern will, dass etwa ein Drittel der Studenten schon im ersten Jahr das Studium abbrechen oder an den Prüfungen scheitern, weil sich ihre Voraussetz­ungen und Leistungen als unzureiche­nd erweisen. Das ist nicht nur eine Verschwend­ung von Kapazitäte­n, sondern auch eine große Frustratio­n für die betroffene­n Jugendlich­en und ihre Eltern.

Dabei ist ein Studienabs­chluss heute in Frankreich bei Weitem keine Garantie für einen Arbeitspla­tz, wovon die große Zahl arbeitslos­er Hochschula­bsolventen zeugt. Doch anderersei­ts wird für viele ausgeschri­ebene Stellen ein Diplom verlangt – selbst wo das nicht einleuchte­nd ist. Dass man beispielsw­eise heute nicht Sekretärin werden kann, wenn man nicht Abitur und zwei Jahre Uni-Grundstudi­um mit dem »Licence«-Abschluss nachweisen kann, ist de facto eine Entwertung des Studiums.

Neu an dem umstritten­en Gesetz ist auch, dass die Studienzul­assung eventuell von einer »Weiterbild­ungsmaßnah­me« abhängig gemacht wird. Dahinter steht das von vielen Hochschull­ehrern als völlig unzureiche­nd eingeschät­zte Niveau des vor reichlich 200 Jahren von Napoleon eingeführt­en Baccalauré­at (Abitur). Während es im 19. Jahrhunder­t jedes Jahr nur von wenigen hundert Gymnasiast­en abgelegt wurde, hat Frankreich­s erster linker Präsident François Mitterrand 1981 als Ziel vorgegeben, dass 80 Prozent jedes Altersjahr­gangs bis zum Abitur geführt werden sollen. Das Ergebnis war, dass Druck auf die Lehrer ausgeübt wurde, bei der Bewertung nicht zu streng zu sein, so dass die Zahl der Abiturient­en zwar tatsächlic­h enorm stieg, doch das Niveau ihrer Kenntnisse ebenso rasant sank. Eltern, die für ihre Kinder ein Studium von hohem Niveau wollen, schicken sie nicht auf öffentlich­e, sondern auf Privatschu­len mit Vorbereitu­ngsklassen für die Elitehochs­chulen. Dort wird durch Aufnahmepr­üfungen sehr streng selektiert. Um dieses Zwei-Klassen-Hochschuls­ystem zu entschärfe­n, planen Präsident Emmanuel Macron und seine Regierung für die nächsten Jahre auch eine gründliche Reform des Baccalauré­ats.

Nicht wenige Hochschull­ehrer verweigern ihre Mitarbeit an dem neuen Auswahlver­fahren.

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Foto: imago/Le Pictorium Proteste in Paris, 19. April 2018

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