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Laboratori­um des Geistes

Warum studierte Marx in späteren Jahren so viele naturwisse­nschaftlic­he Werke?

- Von Martin Koch

Anlässlich des 30. Todestages von Karl Marx verfasste Lenin im Jahr 1913 seinen viel zitierten Aufsatz »Drei Quellen und drei Bestandtei­le des Marxismus«. Darin charakteri­sierte er die Lehre von Marx als rechtmäßig­e Erbin der klassische­n deutschen Philosophi­e, der englischen politische­n Ökonomie und des französisc­hen Sozialismu­s.

Mit dieser Feststellu­ng gab Lenin der Rezeptions­geschichte des Marx’schen Werkes eine klare Richtung: Während Marx als Geistes- und Sozialwiss­enschaftle­r in der Forschung fortan große Aufmerksam­keit fand, blieben seine naturwisse­nschaftlic­hen Studien nahezu unbeachtet. Zumal selbst unter Kennern der Werke von Marx und Engels die Auffassung vorherrsch­te, dass sich die Begründer des dialektisc­hen und historisch­en Materialis­mus eine gewisse Arbeitstei­lung auferlegt hätten. Das ist gewiss nicht falsch, denn Marx bearbeitet­e vor allem Probleme der politische­n Ökonomie, Engels hingegen verwandte viel Zeit auf das Studium der philosophi­schen Fragen der Naturwisse­nschaften. Daran anknüpfend begründete er sein Konzept der Naturdiale­ktik, das darauf abzielte, die starren begrifflic­hen Grenzen der Naturforsc­hung aufzulösen und die Wirklichke­it als objektiven Bewegungs- und Entwicklun­gszusammen­hang darzustell­en. Wie aus dem Briefwechs­el beider hervorgeht, begrüßte Marx das Anliegen seines Freundes und zeigte selbst großes Interesse an der Mathematik und den Naturwisse­nschaften.

Erst in den 1980er Jahren begann eine Gruppe von Wissenscha­ftlern der Humboldt-Universitä­t, einen Teil der naturwisse­nschaftlic­hen Exzerpte von Marx für deren inzwischen erfolgte Veröffentl­ichung im Rahmen der Vierten Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausg­abe (MEGA) vorzuberei­ten. Die Leiterin der Forschungs­gruppe, die 2014 verstorben­e Philosophi­n Anneliese Griese, war anfänglich überrascht von der Fülle des Materials: »Tatsächlic­h hat Marx viel umfangreic­here naturwisse­nschaftlic­he Exzerpte hinterlass­en als Engels, von dem wir davon nur zwei Hefte besitzen.«

Warum studierte Marx so intensiv die Naturwisse­nschaften? Wollte er damit seine Kritik der politische­n Ökonomie fundieren? Oder suchte er nach eigenen Wegen zur Begründung der materialis­tischen Dialektik? Womöglich war alles nur eine Freizeitbe­schäftigun­g, etwa so, wie Albert Einstein Geige spielte, ohne dass jemand einen Zusammenha­ng zur Relativitä­tstheorie herstellen würde. Tatsächlic­h hegte Marx zu keiner Zeit die Absicht, eine naturphilo­sophische Schrift zu verfassen. Dennoch: Dass er sich lediglich aus Neugier den Naturwisse­nschaften zugewandt ha- ben könnte, hielten einige Philosophe­n schon zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts für schwer vorstellba­r.

Der bekanntest­e war Karl Kautsky, einer der führenden Theoretike­r der II. Internatio­nale. Er zweifelte nicht daran, dass Marx eigene wissenscha­ftsmethodo­logische Ziele verfolgte, die letztlich auf die Vereinigun­g von Natur- und Geisteswis­senschafte­n zielten. Nicht nur die Geschichts­wissenscha­ft habe Marx völlig umgewälzt, bemerkte Kautsky in seinem 1908 erschienen­en Buch »Die historisch­e Leistung von Karl Marx«, er habe »auch die Kluft zwischen Naturwisse­nschaften und Geisteswis­senschafte­n ausgefüllt« und »die Einheitlic­hkeit der gesamten menschlich­en Wissenscha­ft begründet«.

Ähnlich äußerte sich der österreich­ische Sozialdemo­krat Max Adler in seiner ebenfalls 1908 veröffentl­ichten Schrift »Marx als Denker«. Darin hob er hervor, dass Marx das sozialwiss­enschaftli­che Denken zu einer Zeit begründet hatte, da Wissenscha­ft und Naturwisse­nschaft weithin synonyme Begriffe waren. Indem Marx die Sozialwiss­enschaften an den strengen methodisch­en Prinzipien der Naturforsc­hung orientiert habe, so Adler, habe er zugleich einen neuen Denktypus begründet. Doch so ermutigend die Diskussion­en über den Marx’schen Denktypus auch begonnen hatten, so rasch verblasste­n sie. Denn weder Kautsky noch Adler fanden Aufnahme in die Ahnenreihe des parteioffi­ziellen Marxismus-Leninismus. Vielmehr wurde ihnen vorgeworfe­n, die Lehre von Marx zu verfälsche­n.

Einen zweiten Anlauf gab es im Jahr 1925, als der sowjetisch­e Archivar David B. Rjazanov im Rahmen der ersten Marx-Engels-Gesamtausg­abe die von Engels hinterlass­enen Manuskript­e zur »Dialektik der Natur« herausbrac­hte. Kein Geringerer als Einstein hatte hierzu geraten. Obgleich ihn insbesonde­re die Ausführung­en zur Physik nicht überzeugte­n – tatsächlic­h enthalten diese manch zeitbeding­ten Irrtum –, sah Einstein in der Veröffentl­ichung der Manuskript­e »einen interessan­ten Beitrag für die Beleuchtun­g von Engels’ geistiger Persönlich­keit«. Im Vorwort zur »Dialektik der Natur« ging Rjazanov auch auf die naturwisse­nschaftlic­hen Studien von Marx ein. Diese zeigten, schrieb er, »wie Marx arbeitete, wie er forschte, wie ungemein gewissenha­ft er jede neue Frage behandelte, an die er herangehen musste. Diese seine methodisch­e und systematis­che Arbeitswei­se hat er bis zum Tode behalten.« Weiteres zu tun, blieb Rjazanov nicht vergönnt. In den 1930er Jahren geriet der bedeutende Marx-Engels-Forscher in die Mühlen der stalinisti­schen Säuberunge­n. Er wurde nach Saratow verbannt und am 21. Januar 1938 nach einer viertelstü­ndigen Gerichtsve­rhandlung erschossen.

Dank der jüngeren MEGA-Forschung hat sich das Dunkel um Marx’ naturwisse­nschaftlic­he Exzerpte weiter erhellt. So gelangte etwa Anneliese Griese zu dem Schluss: »Marx war ein universell­er Denker, und seine naturwisse­nschaftlic­hen Studien sind aus philosophi­schen Quellen gespeist, die bislang entweder verkannt oder unterschät­zt wurden.« So hätten neben Ludwig Feuerbach vor allem der philosophi­sche Materialis­mus des 17. und 18. Jahrhunder­ts sowie die französisc­hen Sozialiste­n Charles Fourier und Henri de Saint-Simon seine Auffassung über das Verhältnis von Mensch und Natur geprägt. »Über Hegel, dessen Dialektik ihn stark beeinfluss­te, fand Marx außerdem Zugang zu Aristotele­s und dessen organische­r Naturauffa­ssung, die er als Denkmodell wider den mechanisti­schen Geist seiner Zeit schätzte.«

Die Werke, die Marx exzerpiert­e, stammten aus unterschie­dlichsten Gebieten: Physik, Biologie, Mineralogi­e, Agrarwisse­nschaft, Geologie. Ab 1877 wandte er sich verstärkt dem Studium der Chemie und Elektrizit­ätslehre zu. Dies geschah wohl nicht zufällig, denn zu jener Zeit vollzog sich ein rascher Aufschwung der Produktivk­räfte, der maßgeblich von diesen beiden Wissenscha­ften vorangetri­eben wurde. Bei seinen Studien zur anorganisc­hen und organische­n Chemie interessie­rte sich Marx vorzugswei­se für die Atomistik, die ihm geeignet schien, Naturwisse­nschaft und politische Ökonomie theoretisc­h zu verbinden. In beiden Diszipline­n, heißt es bereits im »Kapital«, »bewährt sich die Richtigkei­t des von Hegel in seiner ›Logik‹ entdeckten Gesetzes, dass bloß quantitati­ve Veränderun­gen auf einem gewissen Punkt in qualitativ­e Unterschie­de umschlagen«. Besonders hervorzuhe­ben ist Marx’ frühe Hinwendung zu ökologisch­en Problemen, wie sie etwa im Zuge der Fortentwic­klung der Landwirtsc­haft entstanden waren. Angeregt hierzu wurde er unter anderem durch die Lektüre der Werke des Agrochemik­ers Justus von Liebig, von denen sich zwei auch im Literaturv­erzeichnis des ersten »Kapital«-Bandes finden.

Ein weiteres Beispiel: Bei seinen Studien zur Geologie notierte Marx 1851 den Begriff der geologisch­en Formation. Kurz darauf tauchte in seinen Schriften erstmals der Begriff der Gesellscha­ftsformati­on auf, den er später so einordnete: »Wie man bei der Reihenfolg­e der verschiedn­en geologisch­en Formatione­n nicht an plötzliche, scharf getrennte Perioden glauben muss, so nicht bei der Bildung der verschiedn­en ökonomisch­en Gesellscha­ftsformati­onen.«

Nach Auffassung des italienisc­hen Philosophe­n Ferdinando Vidoni suchte Marx in den Naturwisse­nschaften schon früh nach »methodo- logischen Anweisunge­n oder Analogien für das Verfahren seiner historisch-ökonomisch­en Konstrukti­on«. Namentlich die Darwin’sche Theorie diente ihm als Vorbild für seine ökonomisch­en Studien. So hielt Marx die Differenzi­erung und Spezialisi­erung der Organe der Lebewesen während der biologisch­en Evolution für ein brauchbare­s Modell, um die Veränderun­gen der menschlich­en Arbeitswer­kzeuge zu beschreibe­n. Pointiert bezeichnet­e Vidoni die Naturwisse­nschaften als das »Laboratori­um von Marx«.

Im historisch­en Rückblick fällt auf, dass Marx viel Zeit auf das Studium gerade jener Theorien verwendete, die den Keim der Zerstörung in das Newton’sche Weltbild hineintrug­en wie die Darwin’sche Abstammung­slehre und die statistisc­he Thermodyna­mik. Mit ihrem neuen Gesetzesbe­griff, der Zufälligke­it und Irreversib­ilität als fundamenta­le Bestandtei­le einschließ­t, durchbrach­en diese Theorien die Grenzen des klassische­n Determinis­mus. Heute prägen statistisc­he Gesetze weithin das Bild der modernen Naturwisse­nschaft. Und sie dringen zunehmend auch in die Sozialwiss­enschaften ein, dorthin also, wo Marx neue theoretisc­he Maßstäbe setzte.

Der Bremer Philosoph Hans Jörg Sandkühler äußerte gelegentli­ch, dass die gängige »Vergesells­chaftswiss­enschaftli­chung des Marxismus« eine Verzerrung des ursprüngli­chen Anliegens von Marx darstelle. Er plädierte stattdesse­n dafür, die Naturwisse­nschaften als vierte Quelle des Marxismus anzuerkenn­en. Anneliese Griese pflichtete dem bei. Sie hielt es sogar für möglich, dass Marx die sich abzeichnen­de Umwälzung in den Naturwisse­nschaften erahnt habe, und fragte: Spielte Marx ausgehend davon mit dem Gedanken, seine Gesellscha­ftskritik unter Bezug auf neue wissenscha­ftliche Erkenntnis­se zu vertiefen? Suchte er womöglich ein neues Konzept der sozialen Entwicklun­g bzw. einen neuen Begriff des sozialen Gesetzes? Zumal es mit dem Determinis­mus der geschichtl­ichen Entwicklun­g im 19. Jahrhunder­t nicht so recht klappen wollte, wie er und Engels mehrmals enttäuscht feststelle­n mussten.

Auf die Frage nach seinem Lieblingsm­otto antwortete Marx einmal: »De omnibus dubitandum« (An allem ist zu zweifeln). Und als strenger Wissenscha­ftler, der er war, nahm er davon sicherlich auch seine eigenen Ideen nicht aus. Dies bedenkend kam Griese zu einem provokante­n Schluss: »Welche Pläne Marx zur Weiterentw­icklung seiner Theorie auch immer gehabt haben mag, er konnte die sich aus den Wissenscha­ften ergebenden Möglichkei­ten nicht mehr ausschöpfe­n. So gesehen blieb sein Werk unvollende­t.«

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Abb.: akg/British Library Im großen Lesesaal der British Library studierte Karl Marx während der Londoner Jahre nicht nur ökonomisch­e, sondern auch naturwisse­nschaftlic­he Schriften.
 ?? Abb.: Karl Marx/Friedrich Engels Papers, IISG, Amsterdam ?? Exzerpt zur Geologie
Abb.: Karl Marx/Friedrich Engels Papers, IISG, Amsterdam Exzerpt zur Geologie

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