nd.DerTag

Wenn Bäume laufen könnten

Über ein perfektes Grundstück, auf dem viele Baumarten wachsen.

- Von Michael Dressel

Haben Sie auch das Gefühl, dass das Denken und das Vorausscha­uen immer kürzere Zeitabschn­itte umfassen? Bei manchem reicht es bis zum nächsten Smartphone, bei Politikern bis zur folgenden Wahl. Bäume dagegen wirken mit einer maximalen Lebensdaue­r von 50 bis über tausend Jahren wie das Symbol für Langfristi­gkeit, fast Ewigkeit. Vielleicht ist es das, was mich an ihnen so fasziniert. Oder fühlen wir uns in der Natur so wohl, weil sie kein Urteil über uns abgibt?

Vor fünf Jahren schenkten mir meine Eltern aus Altersgrün­den ihr im Berliner Speckgürte­l gelegenes Grundstück. Mit viel Fleiß hatten sie ab 1964 aus 1100 Quadratmet­ern Kiefernwal­d ein Kleinod mit Beeten und einem Wochenendb­ungalow geschaffen, den Waldcharak­ter aber erhalten. Dazu brachten sie auch kleine Rotfichten, Deutschlan­ds häufigste Baumart, aus dem Thüringer Wald mit. Die haben inzwischen stattliche Höhen erreicht.

Als Kind schleppte ich aus der Umgebung kleine Kiefern und Birken zum Nachpflanz­en heran und protestier­te gar mit einem Sitzstreik auf dem Schuppenda­ch gegen den Plan, drei große Kiefern für einen Bungalowan­bau zu fällen. Nun als Eigentümer des Grundstück­s kehrte die alte Leidenscha­ft zurück. In einigen Jahren möchte ich dort wohnen. Ein Garten mit Zierrasen und Pool wäre für mich eine grauenhaft­e Vorstellun­g. Inzwischen hatte ich manches über den Klimawande­l gehört und im Internet recherchie­rt, welche Bäume dem Klimawande­l am besten trotzen können. Für die einheimisc­he Rotfichte sieht es nicht gut aus; Brandenbur­gs Baum Nr. 1, die anspruchsl­ose Waldkiefer, wird dagegen mit den zukünftige­n langen Trocken- und Hitzeperio­den gut zurechtkom­men. Der Platz im Garten ist begrenzt, die Auswahl der Bäume nicht einfach. Mal war es das schnelle Wachstum oder die frühe »Mannbarkei­t« – das Alter, in dem sich die ersten Zapfen bilden –, dann wieder die Widerstand­sfähigkeit, die mich ähnlich wie einen Trainer bei der Auswahl der Sportler für ein Turnier die Wahl zugunsten einer Baumart treffen ließen.

Mit einigen Bäumchen sind tiefe Emotionen, manchmal auch kleine Abenteuer verbunden. Der Ahorn, ausgegrabe­n bei einem Spaziergan­g am Tag der Diamantene­n Hochzeit meiner Eltern, wird mich noch lange an den letzten Urlaub mit meinem Vater erinnern. Die aus dem innig geliebten und häufig besuchten Krakow mitgebrach­ten Eicheln einer Roteiche keimten erst, als ich schon die Hoffnung aufgegeben hatte, und erfreuen mich nun vorerst im Topf auf dem Fensterbre­tt. Ich kann es kaum erwarten, dass sie im Herbst mit den scharlachr­oten Blättern den Garten schmücken. Vielleicht wurde auch die polnische Literaturn­obelpreist­rägerin Szymborska, die in der Straße der »Muttereich­e« wohnte, durch das prächtige Herbstlaub inspiriert.

Bei der Verwirklic­hung meines Traumes machte ich auch Fehler oder riskierte etwas. Eine kleine, gewöhnlich­e Kiefer vom Campgeländ­e in Schweden, wo ich mit netten Leuten mehrfach unvergessl­iche Winterspor­twochen verbrachte, war als Souvenir der besonderen Art ausgewählt. Mit fast kochendem Wasser taute ich den hart gefrorenen Boden auf. Den Wärmeschoc­k nahmen mir jedoch die Wurzeln und Nadeln des Sämlings übel, so dass nach ein paar Wochen klar wurde: Diese Stelle in meinem Garten wird für einen anderen Baum frei. Dort wächst nun eine kleine Kiefer, die ich in der Krakower »Nacht der Wissenscha­ftler« als Teilnehmer eines Workshops erhielt.

Sieht ein Baumfanati­ker wie ich auf einer Weide eine Fichte mit majestätis­cher Silhouette, kann er einfach nicht anders, als ein paar Zapfen zu pflücken. Das Glücksgefü­hl wurde auf dem Rückweg jedoch durch ein paar heftige, aber folgenlose Stromstöße des Koppelzaun­es unterbroch­en.

Eine trotz mehrfacher Versuche immer noch nicht gemeistert­e Herausford­erung stellt die in wärmeren Regionen und deshalb in Mitteleuro­pa nicht lebensfähi­ge Knopfzapfe­nkiefer dar. Sie ist nicht gerade

schön – aber dieses »nicht lebensfähi­g« reizt eben. Immerhin gedeiht sie auf einem Berliner Bahnhofsvo­rplatz. Von den Zapfen in der Wohnung gezogene Sämlinge verkümmert­en immer wieder, so dass ich mehrfach zum Abnehmen der Zapfen mit Leiter und Teleskopst­ange zur Ernte anrückte. Die neugierige­n Blicke der Gäste in der benachbart­en Kneipe begleitete­n mehrfach mein nicht immer zum Nachahmen empfohlene­s Tun. Bald werden durch drei Nadelbäume, die in mehreren Regionen des früheren Jugoslawie­ns beheimatet sind, die letzten freien Quadratmet­er vergeben sein. Die kaufe ich aber in einer Baumschule.

Obwohl mein Wissen über Bäume bescheiden ist, hatte ich den Mut, ei-

nen Artikel für eine Umweltzeit­ung zu schreiben, in dem ich Gartenbesi­tzer unter der Überschrif­t »Mehr Bäume in unsere Gärten!« zu wohlüberle­gten Baumpflanz­ungen animieren wollte.

Inzwischen fanden sich unter meinen Bekannten auch Abnehmer für selbst gezogene Himalajaki­efern. Später werden sie mit ihren weichen, herabhänge­nden seidig glänzenden langen Nadeln zu wahren Schmuckstü­cken heranwachs­en. Könnten Himalajaki­efern laufen, würden sich die anderen Bäume bestimmt nach ihnen umdrehen.

Träume ich voraus, so sehe ich Schulkinde­r des Dorfes, die zu meinem Garten mit rund 20 Baumarten kommen, um etwas über Bäume zu erfahren. Ich werde ihnen auch sagen, dass es den einheimisc­hen Vögeln wahrschein­lich egal ist, ob sie in meinem Garten vom Ast einer Koreatanne, einer nordamerik­anischen Douglasie oder einer deutschen Eiche nach Futter oder einem Partner Ausschau halten. Bei Menschen ist Vergleichb­ares leider nicht selbstvers­tändlich. Außerdem bin ich mir sicher, dass fast alle meine Bäume einen vernünftig­en und behutsamen Umgang der Menschheit mit der Natur erleben werden. Persönlich wünsche ich mir, dass ich in 25 Jahren noch so fit bin, dass ich mich immer im Mai an dem jährlichen Wachstumss­chub erfreuen kann und auch noch weiß, für welche Zeitung ich diesen Text geschriebe­n habe.

 ?? Foto: imago/Manfred Ruckszio ?? Himalajaki­efern sind wahre Schönheite­n unter den Nadelbäume­n.
Foto: imago/Manfred Ruckszio Himalajaki­efern sind wahre Schönheite­n unter den Nadelbäume­n.

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