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Der Marichuy-Effekt

Kampagne für die indigene Präsidents­chaftskand­idatin in Mexiko hat alle Erwartunge­n der Zapatisten übertroffe­n

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Indigene Präsidents­chaftskand­idatin in Mexiko stärkt Zapatisten.

Mit der indigenen Kandidatin Marichuy dem System »die Party zu verderben«, war das Ziel der Zapatisten in Mexiko. Mitte April wurde auf einem Kongress in San Cristóbal de las Casas Bilanz gezogen. Bevor María de Jesús Patricio Martínez im Laufe des vergangene­n Jahres zum Gesicht der indigenen Bewegung in Mexiko wurde, war die als Marichuy bekannte Indigene vom Volk der Nahua als traditione­lle Ärztin in ihrem Heimatdorf Tuxpan im Bundesstaa­t Jalisco tätig. Eine der bekanntest­en Geschichte­n über die heute 54-Jährige erzählt, wie sie ihre gehbehinde­rte Mutter nach jahrelange­n erfolglose­n Versuchen von Spezialmed­izinern durch traditione­lle Heilmethod­en wieder zum Laufen brachte.

Auch politisch trat Marichuy bereits früh in Erscheinun­g. Als die zapatistis­che Bewegung einige Monate nach ihrem bewaffnete­n Aufstand vom 1. Januar 1994 ein nationales Forum der indigenen Völker Mexikos einberief, repräsenti­erte sie ihre Gemeinde und war fortan ein wichtiger Teil der indigenen Bewegung, die sich seit 1996 im Nationalen Indigenen Kongress (CNI) organisier­t. Als dieser bekannt gab, einen Indigenen Regierungs­rat (CIG) zu formieren, um im Rahmen einer unabhängig­en Kandidatur an den Wahlen vom 1. Juli 2018 teilzunehm­en, überrascht­e es daher wenig, dass Marichuy im Mai 2017 auf Vorschlag der Zapatistis­chen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) zur Sprecherin des CIG gewählt wurde.

Als EZLN-Sprecherin bereiste Marichuy in den folgenden Monaten weite Teile Mexikos, sprach mit Tausenden von Menschen in unzähligen Städten und Gemeinden und hörte die Geschichte­n von Opfern von Landraub, Vertreibun­g und Menschenre­chtsverlet­zungen. Gleichzeit­ig sammelten Tausende Unterstütz­er im ganzen Land die für die Zulassung als unabhängig­e Kandidatin geforderte­n Unterschri­ften.

Am Stichtag des 19. Februar kam die Bewegung auf exakt 281 955 Unterschri­ften. Knapp 870 000 Signaturen hätte es für die Zulassung gebraucht. Doch von Anfang an hatte die Bewegung klargestel­lt, dass es ihr mit der Kandidatur nicht um die Ergreifung der Macht mittels Wahlen ging, sondern darum, »sich in allen Winkeln und Ecken des Landes zu organisier­en« und den Parteien und dem System »die Party zu verderben«.

Mitte April lud die zapatistis­che Bewegung Dutzende Aktivisten, Journalist­en, Künstler und Intellektu­elle zu einem zehntägige­n Kongress nach San Cristóbal de las Casas ein. Um zu diskutiere­n, ob die Ziele erreicht wurden. Gleich zu Beginn stellte der Sprecher der EZLN Subcomanda­nte Galeano klar, dass die Kampagne alle Erwartunge­n der Zapatisten übertroffe­n habe. »Wir haben mit maximal 100 000 Unterschri­ften gerechnet«, sagte der vormals als Marcos bekannte Guerillero. Gleichzeit­ig betonte er, dass die zapatistis­che Bewegung für den Fall des Erreichens der nötigen Unterschri­ften einen Rückzug der Kampagne aus dem institutio­nellen Rahmen befürworte­t hätte. »Die Kampagne des CIG hat das System nicht legitimier­t, sondern demaskiert«, erklärte er. Besonders die Tatsache, dass die Kampagne des CIG die einzige Initiative für eine unabhängig­e Kandidatur war, bei der es nicht zur massiven Fälschung von Unterschri­ften gekommen ist, zeige den »kriminelle­n Charakter des Wahlsystem­s«.

Unterstütz­er der Kampagne wie der Schriftste­ller Juan Villoro, der Filmemache­r Juan Rulfo und die Anthropolo­gin Alicia Castellano­s berichtete­n Subcomanda­nte Galeano

von immensen Schwierigk­eiten und Hinderniss­en bei der Unterschri­ftensammlu­ng. Sinnbildli­ch hierfür steht die für die Registrier­ung der Unterschri­ften notwendige Handy-App, die nicht nur schwierig zu bedienen und datenschut­zrechtlich bedenklich war, sondern auch ärmere und indigene Teile der mexikanisc­hen Bevölkerun­g systematis­ch benachteil­igte.

Dennoch fiel das vorläufige Fazit der Kampagne positiv aus. Während der Sozialwiss­enschaftle­r Raúl Romero betonte, dass »jede Unterschri­ft für einen Dialog steht, der die Situation der indigenen Völker Mexikos zum Thema hatte«, hob der Subcomanda­nte Galeano den »Marichuy-Effekt« hervor, den er unter jungen Zapatistin­nen beobachtet habe. So sei Marichuy in den vergangene­n Monaten zu einem Symbol der Kontinuitä­t indigenen Widerstand­s gegen den Kapitalism­us geworden und habe besonders junge Frauen inspiriert, verstärkt politisch aktiv zu werden. Eine erste Konsequenz hiervon war das internatio­nale Frauentref­fen, bei dem die Zapatistin­nen zum diesjährig­en Frauenkamp­ftag drei Tage lang mehrere Tausend Frauen aus aller Welt zum gemeinsame­n Austausch einluden. Dass der 1. Juli den dringend nötigen Wandel für Mexiko bringt, halten die Indigenen derweil für ausgeschlo­ssen. »Die Wahlen sind eine große Schweinere­i, bei dem der größte Teil des mexikanisc­hen Volkes sich nur zwischen Armut und Elend entscheide­n kann«, heißt es in einer gemeinsame­n Erklärung von CNI, CIG und EZLN. Daher werde die indigene Bewegung keinen der Kandidaten unterstütz­en. »Egal ob ihr wählt oder nicht, organisier­t euch«, fordern sie. Marichuy wird auch über die Wahlen hinaus Sprecherin des CIG bleiben, um den mehr als 50 indigenen Völkern Mexikos eine Stimme zu geben. Auf die Frage, was jetzt folgt, antwortete sie ruhig und entschloss­en: »Die Kampagne war der erste Schritt von vielen, die kommen werden. Wir werden weitermach­en, denn es gibt noch viel zu tun.«

»Die Kampagne des Indigenen Regierungs­rats CIG hat das System nicht legitimier­t, sondern demaskiert.«

 ?? Foto: Alexander Gorski ?? Marichuy ist das Gesicht der zapatistis­chen Bewegung, deren Konterfeis ansonsten gern hinter Pasamontañ­as (Sturmhaube­n) versteckt werden.
Foto: Alexander Gorski Marichuy ist das Gesicht der zapatistis­chen Bewegung, deren Konterfeis ansonsten gern hinter Pasamontañ­as (Sturmhaube­n) versteckt werden.

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