Notwendiges Gedenken
Beate Klarsfeld über den Umgang mit alten Nazis und neuen rechten Populisten anlässlich des 85. Jahrestages der Bücherverbrennung
Beate Klarsfeld beteiligt sich am »Lesen gegen das Vergessen« auf dem Berliner Bebelplatz. Im Interview spricht sie über den Umgang mit alten und neuen Nazis.
Sie werden am 10. Mai in Berlin an der Lesung gegen das Vergessen anlässlich der Bücherverbrennung von 1933 teilnehmen. Aus welchen Büchern werden Sie lesen? Was sind Ihre liebsten deutschen Autoren, die verfemt, verfolgt und ausgebürgert wurden aus Nazideutschland?
Ich werde nicht aus Büchern lesen, sondern eine kurze Rede halten. Ich habe ja das Lyzeum mit 15 verlassen und eine Wirtschaftsschule besucht, mit 17 war ich bei Schering angestellt. Ich hatte wenig Bedürfnis, ernsthafte Bücher zu lesen und außerdem wenig Zeit neben der Arbeit. Später habe ich einige Bücher gelesen, aber aus der ganzen Welt: Arthur Koestler hat mich beeindruckt durch die Intelligenz, die aus seinen Romanen und Erinnerungen aufscheint. Auch der südafrikanische Anti-Apartheid-Autor André Brink ist sicherlich ein bedeutender Romancier. Es ist, als ob die wichtigsten Bücher aus dem Chaos und der politischen Gewalt entstehen, in repressiven Gesellschaften, die der Romancier aufdeckt und denunziert. In Deutschland habe ich Heinrich Böll bewundert, nicht nur, weil er mir rote Rosen nach der Ohrfeige an Kiesinger nach Paris schickte. Er war so menschlich während des Krieges und in der Nachkriegsgesellschaft. Man konnte fühlen, dass er nach Hoffnung suchte, selbst wenn er oft enttäuscht wurde. Ich werde bald 80 Jahre alt, bin aber noch viel aktiver als mit 17 und habe nicht immer die Zeit zum Lesen.
Sie haben am 7. November 1968 den Altnazi und Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger geohrfeigt. In der bundesdeutschen Presse wurden Sie attackiert, noch Jahrzehnte später hieß es etwa in »Welt« oder »Bild«, er sei ja nur Mitläufer gewesen. Wie stehen Sie zu diesem Vorwurf? Kiesinger hatte seine Intelligenz, Energie und Loyalität in Hitlers Radiopropaganda gesteckt. Dieser Nazi aus dem Jahr 1933 war stellvertretender Leiter der rundfunkpolitischen Abteilung für das Ausland. Er bestimmte die Richtlinien, er leitete den Sonderdienst Seehaus und wusste, was die Außenwelt über Deutschland berichtete. Im Jahre 1944 hatte Goebbels dem Vorschlag zugestimmt, ihm den Posten in seinem Ministerium zu übergeben. Somit war Kiesinger Verbindungsmann zwischen dem Außenministerium unter Ribbentrop und dem Ministerium von Goebbels. Viele Notizen, die er unterzeichnete, beweisen, dass er hauptsächlich darum bemüht war, im Sinne einer erfolgreicheren Propaganda einen Fanatismus zu korrigieren, der sein Ziel verfehlte.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel hieß es einmal: »Man darf nicht mehr sagen, dass Roosevelt Jude ist, denn das ist nicht wahr, man sollte lieber sagen, Roosevelt ist von Juden umgeben« – und er veröffentlichte eine Liste der Namen. Als Dreißigjähriger, gut gebaut, hätte er an die Front gehen können, aber er wollte lieber im Warmen bleiben und aktiv an der Hasspropaganda gegen Opponenten des Nationalsozialismus teilnehmen. Hans und Sophie Scholl hatten auf ihrem letzten Flugblatt gesagt, man sollte nicht vergessen, die kleinen Größen des Nazismus zu bestrafen, denn diese würden ihre Weste nach dem Krieg wenden und so tun, als wäre nichts geschehen. Wenn heute Journalisten in der »Welt« oder »Bild« schreiben, er sei nur Mitläufer gewesen, so haben sie Kiesingers Akte nicht studiert oder wollen ihn reinwaschen.
Sie sind auch eine »Ikone« von 1968. Sie meinten es ernst mit der Auseinandersetzung mit dem Faschismus, der Tätergeneration. War es nicht frustrierend, dass es bei ver-
baler Kritik der jungen Generation blieb, die bundesdeutsche Justiz aber weitgehend untätig blieb?
Die 1968er-Bewegung hat dagegen protestiert, dass viele alte Nazis sogar noch Posten in der bundesdeutschen Regierung innehatten und nicht für ihre Taten belangt wurden. Allerdings hatte diese Bewegung viele Kämpfe zu führen. Ich hingegen hatte mich auf die Einzelpersonen Kiesinger und später Ernst Achenbach konzentriert.
Sie haben blutbefleckte Nazis sprichwörtlich »gejagt« – Lischka, Mengele, Barbie, Brunner und andere –, als diese noch belangt werden konnten. Erst in den späten 1990ern und nach 2000 hat dann die bundesdeutsche Justiz Anklagen gegen noch lebende Täter wie John Demjanjuk erhoben, die aber aus Altersgründen oft wirkungslos blieben. War diese »biologische Lösung« ein Kalkül?
Es ist positiv, dass die deutsche Justiz die NS-Verbrecher nun doch bis zu ihrem letzten Atemzug verfolgt. Die
deutsche Justiz hat sich aber immer den Wünschen der deutschen Zivilgesellschaft angeschlossen: Als es noch die großen NS-Verbrecher gab, wollten die Deutschen sie nicht anklagen und nicht verurteilen, weil sie selbst den Nationalsozialismus miterlebt und sich nicht widersetzt hatten. Analog dazu war auch die Justiz sehr nachsichtig.
Später hat sich die gesellschaftliche Meinung in Westdeutschland deutlich verschoben, das Symbol dieser Verschiebung ist 1968.
Tatsächlich haben sich die Deutschen zum Glück verändert. Die Generation der Kinder hat die Breite dieser Verbrechen verstanden und auch, dass die Verbrechen ihrer Väter auf sie und die Enkelkinder zurückfallen können. Sie haben die Bestrafung der NS-Verbrecher gewünscht, aber die Schlimmsten waren schon verstorben. Es bieben also nur die Untergeordneten, die aus kleinen Verhältnissen stammten, aber nicht die akademische Elite wie zum Beispiel Kiesinger. Um sie verurteilen zu können, haben Richter die
Rechtsprechung verändert: Es genügt heute, einer kriminellen Vereinigung angehört zu haben, um Anklage gegen eine Person zu erheben, ohne dass im Einzelnen persönliche Tatanteile zu beweisen sind. Für mich hat diese Rechtsprechung seit dem Fall Demjanjuk auch einen negativen Aspekt. Man benötigt nun auch keine Augenzeugen mehr und keine Beweise, dass sie persönlich an dem Verbrechen beteiligt waren.
In Frankreich wie in Deutschland und anderen europäischen Ländern erleben wir ein Erstarken des Rechtspopulismus und Rechtextremismus. Worin sehen Sie die Ursache? Und was ist dagegen zu tun? Was Serge und ich denken, haben wir in einer ganzseitigen Zeitungsanzeige dargestellt, die am 7. Mai in der Zeitung »Le Figaro« erschienen ist, dem Blatt der französischen Bourgeoisie. Dort schreiben wir, wie sich die nationalistischen, antisemitischen und fremdenfeindlichen Triebe in Europa verstärken, zum Beispiel in Italien, Österreich, Ungarn, in Polen, aber
auch in Deutschland, die Rechte bleibt stark in Frankreich, Belgien, in Holland und in anderen Ländern. In Frankreich könnte die extreme Rechte aus den nächsten Europa- oder Präsidentenwahlen als Siegerin hervorgehen, wenn die Reformen, die der Präsident der Republik vorhat, nicht erfolgreich sind. Aus der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland ist, was am 8. Mai 1945 ja völlig unvorstellbar war, die Europäische Union entstanden, die für Frieden, Wohlstand und sozialen Schutz steht. Deutschland, das in Zeiten einer Krise einmal Hitler gewählt hatte, darf nicht rückfällig werden und für die Rechtsextremen stimmen – gerade jetzt nicht, wo es prosperiert und eine relativ geringe Arbeitslosenquote zu verzeichnen hat. Deutschland muss Frankreich helfen und die Europäische Union neu gestalten, um sie zu erhalten und zu schützen.
Lesen gegen das Vergessen, 10. Mai, 15 Uhr, Bebelplatz, Unter den Linden, Berlin-Mitte.
Mehr Infos: lesengegendasvergessen.de