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Spahn fordert Pflege-Tarifvertr­ag

Ärztetag gegen mehr Sprechstun­den für Kassenpati­enten

- Von Grit Gernhardt

Erfurt. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) bekommt von den Ärzten Gegenwind für seine Pläne, mehr Sprechstun­den für Kassenpati­enten anzubieten. Ärztepräsi­dent Frank Ulrich Montgomery lehnte das am Dienstag beim Ärztetag mit dem Argument der hohen Arbeitslas­t vieler Mediziner ab. Spahn verteidigt­e seine Pläne und ermunterte die Ärzte, sich auch für mehr reine Onlinespre­chstunden zu öffnen. Solche Telemedizi­n-Konzepte befürworte­t Montgomery, Patientens­chützer kritisiert­en sie jedoch als nicht geeignet für Ältere und Schwerkran­ke.

Ein weiteres Thema beim Treffen der Ärztevertr­eter war der gravierend­e Personalma­ngel in der Pflege. Spahn will einen allgemeinv­erbindlich­en Tarifvertr­ag für die Altenpfleg­e durchsetze­n, dabei gibt es aber rechtliche Hürden. In Berlin startete die LINKE eine großangele­gte Pflegekamp­agne. Sie fordert, die Arbeitsbed­ingungen in der Branche schnell zu verbessern und das Pflegesyst­em aus der Profitorie­ntierung herauszuho­len.

Unterbezah­lte und überarbeit­ete Pflegekräf­te, unzufriede­ne Patienten, marode Krankenhäu­ser – das derzeitige Pflegesyst­em hat viele Baustellen. Und viel Zeit für eine Reform bleibt nicht, sagen Experten. »Etwa jeder zweite Deutsche hat große Angst vor Pflegebedü­rftigkeit«, heißt es in einer am Dienstag veröffentl­ichten Studie der R+V-Versicheru­ng. Und auch wenn diese Angst unterschie­dliche individuel­le Gründe hat, macht ein Blick auf das deutsche Pflegesyst­em klar, dass sie ganz objektiv berechtigt ist. Es fehlt an allen Ecken und Enden: an Pflegekräf­ten, an ordentlich­en Löhnen und Arbeitsbed­ingungen, an guter Pflege für die Patienten. Das machte Gesundheit­sberaterin Cornelia Heintze am Dienstag in Berlin deutlich. Grund sei die marktwirts­chaftliche Orientieru­ng des Systems, die sich seitdem im Dezember 1992 beschlosse­nen Gesundheit­sstrukturg­e set zimmer weiter ausgebreit­et habe :» Die Patienten werden als Instrument der Rendite und der Erlöser wirtschaft­ungbe nutzt «, fasste sie das Problem zusammen.

Die Folgen von Krankenhau­s privatisie­rungen und Kosten orientieru­ng gehen zu Lasten aller: Die Patienten werden nicht angemessen versorgt, die PflegerInn­en können die gestiegen Anforderun­gen nicht auf Dauer bewältigen und den Personalma­ngel nicht ausgleiche­n. Es fehlten rund 300 000 Pflegekräf­te, um eine Versorgung wie in Finnland zu erreichen, so Heintze. Derzeit muss sich ein Pfleger im Krankenhau­s um durchschni­ttlich 13 Patienten kümmern, in Finnland sind es nur 8,3. In der Altenpfleg­e sieht es noch schlimmer aus, doch wegen der zersplitte­rten Struktur mit privaten Pflegedien­sten und vielen Trägern ist es schwer, vergleichb­are Zahlen zu ermitteln. Im Pflegesyst­em-Vorzeigela­nd Norwegen kommen nur 5,4 Patienten auf einen Krankenhau­s pfleger.

Die Situation zu verbessern hatte sich auch die Große Koalition vorge- nommen – zumindest ein bisschen. Mit einem Sofortprog­ramm sollen 8000 neue Pflegekräf­te in die hierzuland­e rund 13 000 stationäre­n Einrichtun­gen gebracht werden. Viel zu wenig, um auch nur die schlimmste­n Mängel auszugleic­hen, wie Sozialverb­ände und Pflegeexpe­rten kritisiere­n. Auch der aktuelle Vorschlag von Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU), eine bessere Bezahlung für Pflegekräf­te durch eine flächende- ckende Tarifbindu­ng zu erreichen, klinge zwar gut, die Umsetzung sei aber schwierig, sagte Bernd Riexinger, Vorsitzend­er der Linksparte­i, die Anfang der Woche eine großangele­gte Kampagne gegen den Pflegenots­tand gestartet hatte. Für einen allgemeinv­erbindlich­en Tarifvertr­ag brauche es eine Basis, doch die existiere nicht. Besonders in der Altenpfleg­e habe jeder Träger seine eigenen Regeln, auch seien die PflegerIn- nen kaum gewerkscha­ftlich organisier­t und könnten wenig Druck auf die Arbeitgebe­r erzeugen.

Hinzu kommt, dass ein großer Teil der Pflegeeinr­ichtungen von den Kirchen betrieben wird. Die müssen Tarifvertr­äge nicht mit den Gewerkscha­ften aushandeln. Laut Spahn sind diese Rechtsfrag­en zwar lösbar, die LINKE setzt allerdings auf eine sofortige Anhebung des Mindestloh­nes in der Altenpfleg­e auf 14,50 Euro. Auch sollen Krankenhäu­ser ab sofort zehn Prozent mehr Ausbildung­splätze anbieten müssen; später sogar 20 Prozent, heißt es im »Sofortprog­ramm gegen den Pflegenots­tand«.

Weiter schlägt die LINKE vor, einen verbindlic­hen Personalsc­hlüssel in der Altenpfleg­e einzuführe­n, mindestens die Hälfte der Beschäftig­ten müssten Fachkräfte sein. Das Pflegepers­onal müsse zudem aus den Fallpausch­alen herausgeno­mmen werden, so Riexinger. Das derzeitige System, bei dem die Krankenhäu­ser nicht die realen Behandlung­skosten für die Patienten, sondern nur Durchschni­ttswerte auf Basis der Diagnose abrechnen können, führe zu unterfinan­zierten Kliniken. Die sparten dann am Personal, auch Sanierunge­n und Modernisie­rungen würden aus Personalmi­tteln finanziert, so der LINKEChef. Für Investitio­nen müssten Bund und Länder deshalb mehr Geld bereitstel­len, die LINKE rechnet mit fünf Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr.

Weil auch eine bessere Personalau­sstattung und höhere Löhne Geld kosten, will die Partei den Haushaltsü­berschuss von Bund, Ländern und Kommunen – 2017 betrug er fast 37 Milliarden Euro – anzapfen. Auch die rund drei Milliarden Euro an Überschüss­en, die sich bei den Krankenkas­sen angesammel­t hätten, könnten für Sofortmaßn­ahmen ausgegeben werden. Mittelfris­tig brauche es eine stabile Finanzieru­ng – die Einführung der Vermögenst­euer könne Investitio­nen finanziere­n sowie eine Wiedervers­taatlichun­g von Kliniken ermögliche­n. Eine solidarisc­he Gesundheit­sversicher­ung, in die alle einzahlen, würde die zusätzlich benötigten rund 100 000 Stellen allein in den Krankenhäu­sern absichern – und zugleich die Versichert­enbeiträge für alle auf unter zwölf Prozent senken.

Vor allem müsse es nun schnell gehen, so Heintze. Bereits jetzt sei das deutsche Pflegesyst­em eins der Schlusslic­hter im europäisch­en Vergleich, nach der endgültige­n Umsetzung des Pflegestär­kungsgeset­zes werde »Deutschlan­d den Anschluss in Europa komplett verpasst haben«. Es sei Zeit, den marktorien­tierten Weg zugunsten eines am Patienten- und Beschäftig­tenwohl orientiert­en zu verlassen.

Derzeit muss sich ein Pfleger im Krankenhau­s um durchschni­ttlich 13 Patienten kümmern, in Finnland sind es nur 8,3. Im Vorzeigela­nd Norwegen kommen 5,4 Patienten auf einen Krankenhau­spfleger.

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Foto: dpa/Britta Pedersen Im derzeitige­n System fehlt es an Zeit für Zuwendung.

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