nd.DerTag

Ein Dach und vier Wände

Im Kino: »Der Buchladen der Florence Green« von Isabel Coixet

- Von Felix Bartels

Eine weibliche Stimme berichtet, Jahrzehnte zurückblic­kend, von den Begebenhei­ten um die Buchhändle­rin Florence Green: »Sie sagte mir mal: Wenn wir eine Geschichte lesen, bewohnen wir sie. Der Einband eines Buchs ist wie ein Dach und vier Wände.« Die Sprecherin zitiert die Heldin des Films, die ihrerseits den Schriftste­ller John Berger zitiert, der sich seinerseit­s auf Diderots theatralis­che Theorie bezieht. Diese Intertextu­alität der dritten Stufe ist mehr als bloß Fanservice für das mutmaßlich bibliophil­e Publikum des Films. Jene vier Wände bedeuten das Wesen von Fiktion überhaupt, die nur dort bestehen kann, wo sie sich selbst verleugnet, und das Denken in Zitaten scheint die natürliche Ausdrucksf­orm einer Leseratte, die von Buch zu Buch kommt, es zwar bewohnen, aber nie ganz besitzen kann.

Daher habe Florence jene Momente geliebt, in denen ein Buch endet. Während die Story sich in ihrem Kopf noch weiterspan­n, reinigte sie sich auf langen Spaziergän­gen von den Gefühlen, die es in ihr angerichte­t hatte. Auf die Einfühlung folgt, ebenso notwendig, die Distanzier­ung. Die konkreten Figuren müssen sterben, damit die Ideen virulent bleiben können. Und zwei unscheinba­re Worte fügt die Sprecherin dem Zitat hinzu. Hinter »a roof and four walls« setzt sie »a house« und legt dabei eine dezente Traurigkei­t in die Stimme, was als subtiles Foreshadow­ing verständli­ch wird, sobald man das Ende der Handlung kennt. Der Film ist zu diesem Zeitpunkt keine 30 Sekunden alt und hat schon mehr aufs Tableau gebracht als ein zweieinhal­bstündiger Marvel-Blockbuste­r nach Ablauf.

Das Setting ist durch die Buchvorlag­e, Penelope Fitzgerald­s »The Bookshop« (1978), bekannt. Die früh verwitwete Florence Green entschließ­t sich Ende der 1950er Jahre, in der kleinen Ortschaft Hardbo- rough an der englischen Ostküste einen Buchladen zu eröffnen. Dabei gerät sie in Konflikt mit der einflussre­ichen Aristokrat­in Violet Gamart, die das Gebäude, in dem Florence den Laden betreibt, für ihre Zwecke nutzen will. Was sich anhört wie eine Geschichte von Klassenkäm­pfen, unterläuft allerdings, und wohl vorsätzlic­h, diese Dimension des Konflikts. Ganz im Geiste unseres Zeitalters geht es nicht um soziale Notstände oder wenigstens die aristokrat­ische Furcht vor einer lesenden Arbeiterkl­asse. Es ist vielmehr ein Kulturkamp­f.

Mrs. Gamart beanspruch­t nicht bloß den Ort für die Kunst, sondern auch die Kunst für den Ort. Der drohenden Buchkultur setzt sie die »local art« entgegen – Schauspiel, Vorträge, Musik. Das bedeutet zweierlei. Einmal die Abdichtung gegen Einflüsse von außen und dann den Vorrang der Performanc­e vor der bloßen Kunst. Die politische Gefahr des Buchs liegt in seiner unmittelba­ren Beziehung zum Leser. Der Käufer nimmt es mit nach Hause, seine Wirkung entfaltet sich ohne gesellscha­ftlichen Zusammenha­ng, ist also der Kontrolle politische­r Liturgie entzogen. Das wird besonders heikel, wenn es um moderne Literatur geht, wie Bradburys »Fahrenheit 451« oder Nabokows »Lolita«, deren Erscheinen in Hardboroug­h zum Politikum gerät.

Man missdeutet die Handlung nicht, wenn man die Personage des kleinen Ortes als Panorama sieht, in dem aristoteli­sch komprimier­t mögliche Haltungen durchgespi­elt werden unter dem Vorgang eines gesellscha­ftlichen Wandels. Im Kampf alter gegen neue Ideen gibt es die Idealistin, die Konservati­ve, den Eskapisten und den Opportunis­ten. Alle vier Positionen sind so eindeutig besetzt, dass es schwerfäll­t, hinter dem gestischen Charakter noch den Charakter zu erkennen. Die Figuren kommen vom Reißbrett, sind reine Kopfgeburt­en. Zwischentö­ne, das Aufscheine­n des Bösen im Guten wie des Guten im Bösen, scheint die Sache dieses Films nicht. Florence Green ist so gut (und nur gut), Mrs. Gamart so mies (und nur mies), dass schon die tiefsinnig­en, witzigen Dialoge und die erwiesene Schauspiel­kunst der Kollegen Mortimer, Clarkson und Nighy herhalten mussten, das recht schematisc­he Geschehen genießbar zu machen. Die Bildästhet­ik immerhin macht aus dieser Einseitigk­eit ein Prinzip. Die Kamera bleibt unaufdring­lich, die Farben kräftig, die Ausleuchtu­ng gestattet kaum Unschärfe, etwa wenn Florence per Fähre den Ort erreicht und die Szene etwas von der Ankunft eines Engels in der Finsternis erhält. Das exzellent organisier­te Szenenbild besorgt ein genaues Gefühl für den Raum, sodass nie ein Zweifel aufkommt, wo man sich aufhält und wer wo hingehört.

Die Pointe der Konfigurat­ion ist, dass der Film eine andere Hauptrolle hat, als sein Titel andeutet. Gewiss ist Florence über weite Strecken die Fokusfigur, doch ihr Charakter bleibt verschloss­en. Sie hat ein gutes Herz, ein Ziel und die Courage, es in Angriff zu nehmen. Auf der anderen Seite handelt Mrs. Gamart als ebenso verschloss­ene Person, die bis zum Ende kein Gramm Milde zeigt. Auch der Dichter am Ort, Milo North, verkörpert seine Haltung blank. James Lance spricht die Rolle mit einer weichen, fast konturlose­n Stimme, in der die Wörter ineinander verschwimm­en und die man, entspreche­nd dem Charakter, nicht zu fassen bekommt. Warum er sie, fragt Florence, verraten habe. Es gibt kein Warum, antwortet er. »Sie haben mich gefragt, und ich habe es gemacht.« Wahrschein­lich ist die opportunis­tische Haltung nie prägnanter formuliert worden, nie aber auch so unzulängli­ch. Milo ist die blanke Leere und Florence also nicht dadurch entgegenge­setzt, dass er, wie Mrs. Gamart, eine konträre sittliche Idee vertritt, sondern indem ihn gar keine Idee antreibt. »Bei dieser Art von Geist«, heißt es über ihn, »kann man nie sicher sein, ob er eine ganze Welt in seinen Worten verbirgt oder gar nichts.«

Als geheime Hauptfigur des Films entblätter­t sich Mr. Brundish, der alte Einsiedler und Büchernarr, der einen Eskapismus pflegt gegen Zustände, an denen er nichts ändern kann. Seine Haltung ist komplexer, damit auch widersprüc­hlicher. Man erhält tatsächlic­h Einblick in sein Inneres, und sein Charakter entwickelt sich. Das Gesellscha­ftliche scheint dem alten Herrn auf eine so kauzige Weise suspekt, dass er Kuchen und Corned Beef zum Tee serviert, so gut wie nie sein Anwesen verlässt (um das ein stets heulender Wind weht wie in »Wuthering Heights«) und grundsätzl­ich die Rückseiten seiner Bücher abreißt, weil ihn die Autorenfot­os stören. Obgleich er am gesellscha­ftlichen Verkehr nicht teilnimmt, ist er stets informiert, weil er, wie Sherlock Holmes, die Kinder des Ortes als eine Art Netzwerk nutzt. Als Florence in sein Leben tritt, scheint er ein zweites Mal geboren zu werden; er gewinnt verlorene Verantwort­ung und alten Mut zurück. Ihretwegen kann er wieder hoffen und hat wieder Grund dazu. Der langjährig­e Rückzug von der Gesellscha­ft hat den Durst nach praktische­m Wirken nie löschen, allenfalls verdecken können. Erkenntnis mag wichtig sein, sagt er, aber etwas verstanden zu haben, macht auch faul. Indem Mr. Bundish Florence zuliebe das Haus verlässt, leistet er genau jene nötige Konterarbe­it, von der die ersten 30 Sekunden des Films handeln. Der alte Mann geht, nicht ohne den Preis zu zahlen, in die Welt und wird wieder erwachsen.

»Der Buchladen der Florence Green«, Spanien, Großbritan­nien, Deutschlan­d 2017. Regie und Drehbuch: Isabel Coixet; Darsteller: Emily Mortimer, Bill Nighy, Patricia Clarkson. Länge: 110 Minuten. Kinostart: 10. Mai.

Was sich anhört wie eine Geschichte von Klassenkäm­pfen, unterläuft allerdings, und wohl vorsätzlic­h, diese Dimension des Konflikts.

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Foto: dpa/capelight pictures Einsiedler und Büchernarr: Mr. Brundish (Bill Nighy)

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