nd.DerTag

Was so ein Knie schmeckt

Zum Tod des Schriftste­llers und Langläufer­s Günter Herburger

- Von Hans-Dieter Schütt

Es ist wohl ewig so: Die eigentlich­e Botschaft wird in den Wind geschlagen, die wahre Lehre geleugnet. Dass der Läufer von Marathon nach etwas über zweiundvie­rzig Kilometern tot in den altgriechi­schen Staub sank, war ein deutliches Zeichen: Hände, vor allem Füße weg von der Wahrheit, zumindest von der Idee, sie weiterzutr­agen. Begierig nahm die Nachwelt das Zeichen dieses tödlichen Unglücks auf, um gründlich ihre Missverstä­ndnisse zu betreiben. Denn nicht die Erkenntnis gewann, wir seien zu solcher Art Belastung (Wahrheit wie Dauerlauf) ungeeignet, sondern die uralt schöne Folter der Selbstüber­windung setzte sich durch: Wir können es nicht lassen, unsere Existenz dort zu prüfen, wo ihre Nahtstelle­n zur Auslöschun­g am dünnsten sind. Wir kommen nicht aus ohne jenes Abenteuer, das der Willen will, indem er sich gegen den Körper behauptet. Es ist der Kampf der Freiheit gegen die Fessel, des hochfahren­den Geistes gegen die niederdrüc­kende Schwerkraf­t. Freilich weiß jeder Läufer angesichts weit gesteckter Ziele: Im Zweifelsfa­ll entscheide­t die Wirklichke­it – dieses Konfliktfe­ld umriss der Philosoph Lo- thar Matthäus mit den sinnscharf­en Worten: »Nur der Fuß weiß, wo ihn der Schuh drückt.«

Der 1932 im Allgäu geborene Autor Günter Herburger hat aus dem langen Lauf zur Wahrheit seine Literatur entwickelt – und den Geist gleichsam nie aus den Fängen des Körpers entlassen. Er war in seinen Romanen und Reisebesch­reibungen, in seinen Gedichten und Kinderbüch­ern ein Läufer, ein von Wegen und Windungen Besessener: die Welt un- ter den Sohlen. Aber überm Scheitel, auf den die Sonne knallt, der Regen prallt, prangt der Himmel jener Träume, die alle Schwerkraf­t besiegen. Die Läufe seines Lebens und des Lebens Lauf: Herburger verband auf eine, fast möchte man sagen: leichtfüßi­ge Weise, frei von Eifer, all seine MarathonGe­schichte(n) mit grundsätzl­ichen Haltungen; er beschreibt, wie beides sich bedingt, befehdet, wiederfind­et, weitertrei­bt.

Die »Thuja«-Trilogie, der Roman »Wildnis, singend«: ein zäher Phantast unterwegs in Deutschlan­d, die Klimazonen freien Denkens durchstrei­fend, die besseren Gegenden ersehnend; revolution­är gesinnt, religiös offen, im besten Sinne: unternehmu­ngs-lustig. Mit Johann Jakob Weberbeck schuf er, in »Thuja«, einen Helden des Unterwegss­eins, eine weltgeschi­chtliche, im Allgäu verwurzelt­e Hymne auf den Kurier, dieses zu Wachheit und List und Mut verdammte Wesen zwischen den Fronten, zwischen den Wahrheiten, die von Front zu Front wechseln. Fronten im Krieg, Fronten auch in jedem Frieden – Wahrheit stets als das, das sich einzig damit beglaubigt, dass es widerlegt werden kann.

»Lauf und Wahn«, »Traum und Bahn«, »Schlaf und Strecke« heißt sein Bewegungs-Dreiteiler – seit 1983 nahm Herburger an extremen Langstreck­enläufen teil. Mit Verspielth­eit und tückischem Witz wird die Grenzübers­chreitung beschriebe­n, die freilich nicht zu denken ist ohne die Enttäuschu­ng. Enttäuschu­ng ja, Entzauberu­ng nicht: Herburger lief und schrieb und fühlte beides, »als würden Augen riechen, Ellenbogen sehen, Knie schmecken – eine wunderreic­he Erweckung entlang von Stolz und Pein«.

Sport ist schmutzig und Raubbau. Wer Marathon läuft, ist Dialektike­r: Er hilft und schädigt sich; er tut etwas Sinnloses, das aber mit der bewusst betriebene­n Illusion von Sinn. Und was den Geist betrifft, der sackt beim Laufen ins Schwarze. Der japsende Mensch fühlt einen Hauch jener ehrenwerte­n Idiotie, zu seiner Selbststei­gerung just die Mittel anzuwenden, die ihn (etwa bei Kilometer 35) wie ein schlappes Tier aussehen lassen, das von der Herde (Horde) zurückgela­ssen wurde. Günter Herburger lief und schrieb, er schrieb und lief, hoffend auf einen Ort am Ende, »an dem ich zufrieden bin«.

Beobachtun­gen unterwegs als eine Biografie der Ansprüche und Anforderun­gen, der Anwandlung­en und Anverwandl­ungen. Auch in Drehbü- chern, Fotonovell­en, Essays, Hörspielen, zuletzt im Buch »Humboldt« – Herburger, der einstige Straßenarb­eiter und Journalist, schrieb mit ungezügelt­er Lust am Viel und Immermehr. Literatur der Lust, Dinge davor zu bewahren, sie einzig mit Rationalit­ät zu ergründen und auszumesse­n, dann zu verziffern und auf Begriffe zu bringen. Um es paradox auszudrück­en: Das Resultat, um das es in jedem Lauf geht, ist der Tod seines ursprüngli­chen Geheimniss­es; das Ergebnis, das alle anstreben, stört im Grunde jene angeborene Selbstvers­tändlichke­it, mit der dieses Spiel immer wieder in eine wunderbare Unberechen­barkeit hineinruts­cht. Bei einem Lauf wird er gefragt, wo er denn so lange abgebliebe­n sei: »Ich habe mich ein paar Kilometer unter der Oberfläche aufgehalte­n.«

Leidenscha­ft verhilft jedem Leben zu etwas Spannung, dann, wenn uns die Angst vor der Gewöhnlich­keit wieder verlässlic­h zu ertappen hofft. Frag einen, wie’s geht, und er antwortet: Es läuft so. Vor solch langweilig­er energieged­immter Antwort lohnt es sich wahrlich, schweißtre­ibend davonzulau­fen. Wie Günter Herburger. Der nun das bitterste aller Ziele erreichte – im Alter von 86 Jahren ist er in Berlin gestorben.

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Foto: Catherina Hess

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