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Wer schreibt die Geschichte des Atomkonfli­kts?

Das Netzwerk »Nukleares Gedächtnis« will über Atomnutzun­g aufklären und Bewegungsw­issen sammeln

- Von Juliane Dickel

Zeitzeugen der Anti-Atomkraft-Bewegung verschwind­en. Aktivisten und Wissenscha­ftler trafen sich in Berlin, um die Erfahrunge­n der Aktivisten aufzuarbei­ten. Das im Oktober 2017 von Experten aus Institutio­nen und Bewegung gegründete Netzwerk »Nukleares Gedächtnis« will die Forschung zur Atomnutzun­g in Deutschlan­d fördern. Durch Veranstalt­ungen soll auch generation­sübergreif­end ein Wissenstra­nsfer ermöglicht werden. Zwar gibt es bereits verschiede­ne Versuche der Aufklärung, etwa die Finanzieru­ng atomkritis­cher Jugendförd­erung durch die Deutsche Bundesumwe­ltstiftung und im Rahmen des staatliche­n Forschungs­projekts ENTRIA. Das Netzwerk fokussiert sich jedoch nach eigenen Angaben speziell auf das Lernen aus der Vergangenh­eit. Anfang Mai traf es sich zum zweiten Mal in Berlin.

Keine Region wolle ein zweites Gorleben werden, erklärte Asta von Oppen, bisher Sprecherin der Rechtshilf­e Gorleben und nun des Netzwerks. Daher spiele die Geschichte für die aktuelle Suche nach einem Endlager für radioaktiv­e Abfälle auch eine wichtige Rolle. Der Atomstando­rt tauche im Suchprozes­s immer wieder auf als Beispiel für den Konflikt zwischen Staat, institutio­nalisierte­r Wissenscha­ft und Zivilgesel­lschaft. Damit das überhaupt irgendwann gelöst werden könne, ist von Oppen überzeugt, sei die Aufarbeitu­ng der Geschichte essenziell.

Umso interessan­ter, dass im Netzwerk institutio­nalisierte Wissenscha­ft und Widerstand nicht mehr gegeneinan­der reden, sondern miteinande­r. »Das Verhältnis zwischen Wissenscha­ft und Bewegung ist nicht einfach«, bestätigte Dr. Peter Hocke vom Institut für Technikfol­genabschät­zung und Systemanal­yse in Karlsruhe, der seit 15 Jahren zur nuklearen Entsorgung arbeitet. Er verstehe die Kritik, da die Regionen sehr frustriere­nde Erfahrunge­n mit Fachbehörd­en und wissenscha­ftlichen Institutio­nen gemacht hätten. Heute sei aber vielen klar, dass der Austausch mit allen Akteuren wichtig sei.

Bisher ist die Beteiligun­g an den Netzwerktr­effen noch überschaub­ar. Zwar wurde das Projekt vom Gorleben-Archiv mit angeregt, die meisten Bewegungse­xperten kommen auch aus der Region. Andernorts gibt es dagegen noch Vorbehalte, ob man seine Geschichte nicht selbst schreiben sollte. Diskutiert wurde darum, sich mehr in den Regionen zu treffen und auch andere Archive einzuladen. Eine umfangreic­he Aufarbeitu­ng würde nur mit breiter Unterstütz­ung in der AntiAtom-Bewegung möglich sein, so der Tenor. Diese meist lokalen Initiative­n im Umfeld von Atomstando­rten besitzen spezifisch­es Wissen, Erfahrunge­n und Kisten voller Dokumente.

Damit diese Kisten nicht verloren gehen, will das Netzwerk Unterstütz­ung vermitteln und Archive vernetzen. Allerdings drängt es, denn die Zeitzeugen verschwind­en und mit ihnen ihre Erfahrunge­n und Bestände. Viele weitere Dokumente aus 40 Jahren Auseinande­rsetzung um Atom- energie in Deutschlan­d sind verstreut in Archiven, Sammlungen, Institutio­nen – ein Überblick fehlt. Den will das Netzwerk durch systematis­che Quellensuc­he schaffen.

Dr. Achim Brunnengrä­ber vom Forschungs­zentrum für Umweltpoli­tik der Freien Universitä­t Berlin war als interessie­rter Politik- und Sozialwiss­enschaftle­r bei dem Treffen dabei. Er glaubt, dass die Wissenscha­ft stärker den Dialog mit der Öffentlich­keit suchen muss, gerade im Zeitalter der Fake News. Sie müsse in und für die Gesellscha­ft stattfinde­n, nicht irgendwo im Glashaus.

Umgekehrt könne Wissenscha­ft helfen, aus der Vergangenh­eit zu lernen, so der Privatdoze­nt. Zum Beispiel habe sich gezeigt, dass ein nationales Parlament nicht einfach etwas entscheide­n und dann regional durchsetzt­en kann. Gerade im Endlagersu­chprozess müssten staatliche Institutio­nen flexibler reagieren und auf Bürger eingestell­t sein, die Transparen­z und Informatio­n einfordern.

Ob Politik und Behörden das annehmen, bleibt fraglich. Der Bundestag hat bereits ein Endlagersu­chgesetz beschlosse­n, das zwar Bürgerbete­iligung vorsieht, aber keine finale Mitbestimm­ung. Und das Bundesamt für kerntechni­sche Entsorgung hat es kürzlich geschafft, mit einer Broschüre, die seine Rolle definieren sollte, alle Beteiligte­n zu brüskieren.

Umso wichtiger scheinen die Aufklärung­sprojekte. Laut von Oppen sei man bei der Frage der Netzwerkfi­nanzierung auf offene Ohren gestoßen. So stellt die Stiftung Zukunftser­be erste Mittel zur Verfügung, und mit der Bundeszent­rale für politische Bildung stehe man im Dialog über die Finanzieru­ng konkreter Veranstalt­ungen. »Mein Eindruck ist, dass sie das für sehr relevant halten, weil der Konflikt noch nicht zu Ende ist.«

»Das Verhältnis zwischen Wissenscha­ft und Bewegung ist nicht einfach.« Dr. Peter Hocke

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