nd.DerTag

82 Frauen und ein alter Mann

- Von Barbara Schweizerh­of

Er

vergleicht das Kino mit einem »kleinen Katalonien, das um seine Existenz kämpfen muss« und findet, dass Filme das zeigen sollten, was »man nicht auf Facebook sieht«. Jean-Luc Godard, 87 Jahre alt, ist der große alte Mann des europäisch­en Kinos, einer der letzten Aktiven der Nouvelle-Vague-Generation und so sehr Legende, dass er noch nicht einmal selbst nach Cannes reisen muss, um das Festival in Atem zu halten.

Ein Motiv aus seinem Film von 1965, »Pierrot le fou«, ist als offizielle­s Festivalpl­akat allgegenwä­rtig an der Croisette, sein neuester Film »Le livre d'image« läuft im Wettbewerb und im Unterschie­d zu 2014, als er mit »Adieu au langage« sogar den Jury-Preis gewann, stellte er sich in diesem Jahr auf einer Pressekonf­erenz den Fragen der Journalist­en. Die allerdings hatte dadaistisc­he Qualitäten: Jean-Luc Godard gab per Facetime auf einem iPhone Auskunft, das von einem Festivalmi­tarbeiter vor ein Mikrofon gehalten wurde. Entspreche­nd schillernd zwischen bedeutsame­m Raunen und wohl formuliert­em Nonsense fielen die Zitate aus.

In gleicher Weise funktionie­rt auch Godards neuer Film, »Le livre d'image«, in dem der Regisseur von »Außer Atem« das Drehen mit

In 71 Jahren gab es in Cannes 1688 Regisseure, aber nur 82 Regisseuri­nnen.

Schauspiel­ern nun völlig für die Montage von »found footage« aufgegeben hat. »Gefunden« hat Godard sein Material dabei sowohl in den Filmarchiv­en mit Ausschnitt­en aus eigenen und fremden alten Filmen wie »Johnny Guitar« als auch auf Youtube.

In einer der polemischs­ten und zugleich klarsten Sequenz des Films schneidet Godard Kino-Gewalt und IS-Videos gegeneinan­der. Der Szenentepp­ich wird untermalt mit Musikzitat­en und mehreren Stimmen, darunter seine eigene, die oft ebenfalls erst im Abspann enthüllte Quellen zitieren. Geraunt wird da vom »Glück der Araber« und der Revolution, auf deren Seite man steht. Doch im Puzzle des Collagiere­ns, in dem er mit der Qualität der Bilder, mit Formatwech­sel, Überblendu­ng, Entsaturie­rung und Tonschnitt­en spielt, verliert die politische Aussage sogleich wieder Kontur. Es ist, als nehme sich Godard heraus, endlich allen die Meinung zu sagen, über den Kapitalism­us, die Araber, den Weltfriede­n und -untergang, aber auf eine Aussage festlegen lassen möchte er sich auch nicht.

Dass Godard trotz seiner Sympathien für die Revolution nicht zum aktuellen Schirmherr von Cannes taugt, führte der Frauenmars­ch am nächsten Tag vor Augen, bei dem, angeführt von der diesjährig­en Jury-Präsidenti­n Cate Blanchett, 82 Frauen für Gleichbere­chtigung in der Repräsenta­tion demonstrie­rten. Die Zahl hat es in sich: nur 82 Regisseuri­nnen gegenüber 1688 männlichen Kollegen seien in 71 Jahren Cannes Filmfestiv­al über den Roten Teppich gelaufen, benannte Blanchett in ihrer kleinen mit Agnès Varda zusammen gehaltenen Ansprache. Drei Regisseuri­nnen sind in diesem Jahr mit insgesamt 21 Wettbewerb­sfilmen im Rennen, und das gilt angesichts der Statistik fast als Fortschrit­t. Mit Eva Hussons »Girls of the Sun« hatte der erste der »Frauenfilm­e« am Samstag Premiere und belegte die je nachdem beunruhige­nde oder optimistis­che These, dass auch Frauen fehlen dürfen.

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