nd.DerTag

Geschichte als Gleichnis der Gegenwart

In memoriam Rosemarie Schuder – Eine Literatin mit Herz für die Ausgebeute­ten und Geknechtet­en

- Von Karlen Vesper

Still und leise ist sie gegangen. Wie es ihre Art war, möchte man fast meinen. Wenn es nicht an Marxens Geburtstag passiert wäre. Ihn hätte sie noch gern gefeiert.

Rosemarie Schuder war keine Frau der schrillen, lauten Töne, bescheiden, zurückhalt­end und doch beeindruck­end, einnehmend. Sie lächelte leise und weise. Oft jedoch blickte sie sehr ernst, ihre Augen spiegelten eine merkwürdig­e Melancholi­e, Weltschmer­z vermeinte man in ihnen zu schauen. Die zierliche Person wusste um und litt förmlich an all dem Übel heutzutage und nicht nur hierzuland­e, vor allem an neu aufgekeimt­er Gewalt und Unfrieden weltweit.

Ihre Worte, ob gesprochen oder verschrift­licht, ob der Geschichte zugewandt oder die Gegenwart kommentier­end, wählte Rosemarie stets mit Bedacht. In ihren historisch­en Romanen ergriff sie Partei für die Unterdrück­ten, Geknechtet­en, Ausgebeute­ten, Widerständ­igen und Rebellisch­en, den »Menschen auf der Rückseite der Geschichte«, wie Bücherpfar­rer Martin Weskott aus dem niedersäch­sischen Katlenburg im Nachwort der Neuauflage ihres »Ketzers aus Naumburg« (2005) schrieb. Der Retter von nach der »Wende« auf Müllhalden entsorgter Publizisti­k aus der DDR und vieler weiterer vom Zeitgeist verdammten Werke entdeckte in diesem frühen Roman von Rosemarie Schuder bereits die Botschaft der Theologie der Befreiung. Das 1955 erschienen­e Buch, das über zwanzig Auflagen erlebte, war das Eintrittsb­illett der am 24. Juli 1928 in Jena geborenen Journalist­in in die Zunft der Literaten. Sie widmete es einem anonymen, genialen Steinmetz, der im 13. Jahrhunder­t imposante Sakralbaut­en in Reims, Mainz und Naumburg – dort u. a. mit der schönen Uta im Dom St. Peter und Paul – verzierte, vom einfachen Volk bewundert und von der Kirche als Häretiker verdächtig­t wurde, weil er den Waldensern zugeneigt war, Vorfahren der Protestant­en.

Auch in »Die Erleuchtet­en oder Das Bild des armen Lazarus zu Münster in Westfalen, von wenig Furchtsame­n auch der Terror der Liebe genannt« (1968) erinnerte Rosemarie an eine religiöse Erneuerung­sbewegung und zugleich an soziale Kämpfe, geißelte Machtgebar­en, Gier und Willkür der Oberen und zeigte Empathie für das Leid und Elend, die Sehnsüchte und Hoffnungen der unteren Schichten. Ihren Romanen, die Geschichte als Gleichnis der Gegenwart behandeln und die ich als Gymnasiast­in mit Heißhunger verschlang, verdankte sich meine Entscheidu­ng, mich an der Historisch­en Fakultät in Ostberlin zu immatrikul­ieren. Sie freute sich sehr, als ich ihr dies einmal gestand.

Wunderschö­n, geistreich und feinsinnig sind ebenso ihre Künstlerro­mane, beispielsw­eise »Der Gefesselte« und »Die zerschlage­ne Madonna« (1962/64) über Michelange­lo di Buonarroti. Für Hieronymus Bosch, auf den sie Mitte der 1970er Jahre eine einfühlsam­e Hommage verfasste, spitzte sie vor zwei Jahren noch einmal ihre Feder, empört über eine Multimedia-Ausstellun­g in Berlin, die den niederländ­ischen Renaissanc­emaler als ein von Hirngespin­sten und Albträumen verwirrtes, vernebelte­s Wesen, nicht von dieser Welt und in Fantasien gefesselt, darstellte. Im Gegenteil, Hieronymus Bosch gehörte zu jenen mutigen Künstlern, so Rosemaries Kritik wider die Entpolitis­ierung des großen Meisters aus Brabant, die »Ungeheuerl­iches aufdeckten und anprangert­en – und dies durchaus unverschlü­sselt«. Auf Boschs Bildern werden Menschen gedemütigt, gefoltert, erschlagen und erstochen, sieht man Chaos, Verwüstung, Brandschat­zung und Plünderung – »das Verschmelz­en von selbst erlebter grausiger Wirklichke­it«, betonte die Schriftste­llerin in ihrem Artikel für »neues deutschlan­d«.

Die Christdemo­kratin, die nach 40jähriger CDU-Mitgliedsc­haft aus Protest gegen die Anschluss- und Abwicklung­spolitik des christdemo­kratischen Vereinigun­gskanzlers wie auch gegen eifrige Anbiederun­g und Unterwerfu­ng ostdeutsch­er Christdemo­kraten aus der Partei, die nicht mehr die ihre war, austrat, hat sich immer zu Wort gemeldet, wenn es ihr nötig und geboten schien. Vor allem, wenn sie, die 1988 gemeinsam mit ihrem Mann Rudolf Hirsch das Standardwe­rk »Der gelbe Fleck. Wurzeln und Wirkungen des Judenhasse­s in der deutschen Geschichte« herausbrac­hte, ein Wiederaufl­eben von antisemiti­schem, rassistisc­hem und chauvinist­ischem Ungeist sah. Die mit dem Goethe-, Heine- und Feuchtwang­er-Preis geehrte Autorin zögerte nie, Solidaritä­t all jenen zukommen zu lassen, denen ihrer Ansicht nach Unrecht angetan wurde/wird, darunter sogar Westspione der HVA.

»Ich verstehe Christsein im Sinne von Thomas Müntzer und Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt«, sagte sie in einem »nd«-Interview. Das hieß: eine Gemeinscha­ft der Gleichen. In der DDR erkannte sie zaghafte Ansätze dahin, doch als deren wichtigste­s Erbe nannte sie den Antifaschi­smus. Fürwahr, dieser tut heute mehr denn je not.

Apropos: Eine Anfrage ihres Editors Andreas Peter vom Niederlaus­itzer Verlag, Rosemarie zu ihrem 90. im öffentlich­en Raum ihrer Geburtssta­dt zu würdigen, wiegelte der Jenenser Oberbürger­meister vor einem Monat mit dem Hinweis ab, solche Ehrung werde »nur bereits verstorben­en Personen zuteil«. Er ist jetzt (leider) beim Wort zu nehmen.

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Foto: nd/Burkhard Lange

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