Plötzlich Mitwisser
Der Fall Skripal und neue Ungereimtheiten – diesmal aus Deutschland
Das Skripal-Gift gibt’s nur in Russland. Und nun auch beim BND.
Die Bundesregierung tat ahnungslos im Fall »Skripal«, attackierte im Rudel Russland und verschwieg, dass der BND schon vor zwei Jahrzehnten ein Stück vom Tatwerkzeug Nowitschok in Besitz hatte. Am 4. März wurden der Ex-Doppelagent Sergei Skripal und seine 33jährige Tochter Julia in der englischen Stadt Salisbury bewusstlos aufgefunden. Man diagnostizierte umgehend eine lebensbedrohliche Vergiftung durch den Nervenkampfstoff Nowitschok. Den gab es angeblich nur in der Sowjetunion. Premierministerin Theresa May erklärte umgehend, Russland sei »sehr wahrscheinlich« für den »Giftanschlag« verantwortlich. Deutschland stellte sich wie andere westliche Staaten an die Seite Großbritanniens.
Warum Moskau den vor Jahren nach Großbritannien entlassenen ehemaligen Agenten des Militärgeheimdienstes GRU, der sich vom britischen MI6 umdrehen ließ, hätte umbringen sollen, ist nie ernsthaft gefragt worden. Die Kampagne lief, da konnte Russland noch so sehr seine Unschuld beteuern und eine Einbeziehung in die Ermittlungen fordern. Die Propagandaschlacht gipfelte in der gegenseitigen Ausweisung von Diplomaten. Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) – von Großbritannien in die Untersuchung erst spät einbezogen – bestätigte, den Verdacht, dass bei dem Salisbury-Anschlag Nowitschok verwandt wurde.
Die beiden Skripals kamen aus dem Krankenhaus, wurden an einem geheimen Ort versteckt, andere Themen machten Schlagzeilen. Gerade deshalb nervten Bundestagsabgeordnete um die Linksfraktionsvizechefin Sevim Dagdelen die Bundesregierung mit Anfragen. Die Bundesregierung entzog sich einer Antwort zunächst durch mehrfache Fristverlängerung, dann erklärte sie: »Gegenstand der Fragen sind solche Informationen, die in besonders hohem Maße das Staatswohl berühren«. Man lehnte sogar eine VS-Einstufung von Antworten und deren Hinterlegung in der eigens dafür vorgesehen Geheimschutzstelle des Parlaments ab. Denn: »Die angefragten Inhalte beschreiben die Fähigkeiten und Arbeitsweisen des Bundesnachrichtendienstes so detailliert, dass eine Bekanntgabe auch gegenüber einem begrenzten Kreis von Empfängern ihrem Schutzbedürfnis nicht Rechnung tragen kann.« Das ließ politische Erklä- rungsnöte ahnen. Die nun noch anwachsen.
Am Mittwochabend veröffentlichte, noch recht schwammige Berichte von »Süddeutscher Zeitung«, NDR, WDR und der »Zeit« lassen vermuten, dass die Bundesregierung, das Kanzleramt, der von ihm beaufsichtigte deutsche Auslandsgeheimdienst (BND) und das Bundesverteidigungsministerium seit über zwei Jahrzehnten sehr genau über das Nervengift Nowitschok Bescheid wissen. In den frühen 1990er-Jahren soll der BND Kontakt mit einem russischen Wissenschaftler gehabt haben, der an der Herstellung und Weiterentwicklung von Nowitschok arbeitete. Er bot angeblich an, eine Probe dieser relativ neuen Gruppe von Kampfstoffen zu besorgen und verlangte dafür – ganz idealistisch – nur einen sicheren Aufenthaltsstatus für sich und seine Familie.
Es war die Zeit des Wandels in Europa und der Welt. Der Kalte Krieg lief aus, die USA und Russland hatten 1989 das sogenannte WyomingMemorandum zum Datenaustausch über C-Waffen unterzeichnet. Es folgten bis 1992 bilaterale Abkommen zu deren Lagerung, dem sicheren Transport und letztlich zur Vernichtung dieser Massenvernichtungsmittel. Gemeinsam wollte man Proliferation verhindern und einen weltweiten Verbotsvertrag initiieren. Das gelang, der Vertrag trat 1997 in Kraft.
Offiziell begrüßte die seit Gründung 1949 durch Selbstverpflichtung C-Waffen-freie Bundesrepublik Deutschland solche Abrüstungsverhandlungen. Aber die Gelegenheit schien zu verlockend, in den Besitz des neuen sowjetischen Kampfstoffes zu kommen. Die Frau des russischen Experten hat dann angeblich eine Nowitschok-Probe nach Deutschland gebracht. Wer das Verräterpaar ist, bleibt im Dunkel. Ob es sich bei dem Mann womöglich um Wil Mirsajanow handelt, den die »New York Times« 1999 als Überläufer outete? Wurde er vom BND an die US-Dienste weitergeleitet, so wie einst der irakische »Chemiewaffenexperte« Rafid Ahmed Alwan (alias »Curveball«), der sich dann als williger Anschieber für den Überfall der USA auf Irak benutzen ließ?
Noch fehlen zum BND-Nowitschok-Deal belastbare Fakten, Namen und Daten, um alles in die damalige politische Lage einzuordnen. Sicher ist: Es war die Zeit, in der Bundeskanzler Helmut Kohl und Russlands Präsidente Boris Jelzin eine sogenannte Männerfreundschaft pflegten. Der Deutsche wollte dem trunksüchtigen Russen so viele Zugeständnisse wie möglich entlocken. Deshalb blieb alles unterm deutschen Teppich, was die Beziehungen störte. Lediglich auf nachrichtendienstlichem Wege soll man Moskau signalisiert haben: Wir wissen, was ihr tut ...
Macht das Sinn? Schließlich haben die USA vereinbarungsgemäß bereits seit 1992 die NowitschokHerstellungsbasis im usbekischen Nukus demontiert. Sie kannten also den binären Kampfstoff, verfügten mit Sicherheit über Proben und Technologien. Was also hat die BNDInformation zusätzlich bewirken können?
Antworten der Bundesregierung sind gefragt. Wie viel Gramm des Kampfstoffes wurden von wem in welcher Form und auf welchen Wegen quer durch Europa geschleust? Deutschland, so die vom Medienverbund verbreitete Aussage, habe den Kampfstoff an ein Labor in Schweden weitergeleitet. Wie heißt es? Wie lautete der Auftrag? Wohin ist der Kampfstoff danach gelangt? Angeblich wurden dem deutschen Auftraggeber nur chemische Formeln übermittelt, die der BND dann an die Bundeswehr weitergab, damit diese Abwehrmöglichkeiten entwickelt. Kaum denkbar, dass dazu Formeln reichen.
Auf Kanzleramtsweisung gingen die Formeln (oder mehr?) auch an enge Bündnispartner. Sechs Länder sollen eine Arbeitsgruppe gebildet haben. Vor geraumer Zeit verlautete bereits, dass die USA und die britische Forschungsstelle Porton Down – nahe dem Skripal-Tatort in Salisbury – selbst geringe Mengen des Nervenkampfstoffes hergestellt und damit experimentiert haben. Auch Frankreich, die Niederlande und Kanada sollen über Nowitschok informiert gewesen sein.
Jüngst sorgte der tschechische Präsident Milos Zeman für Aufregung, weil er behauptete, auch in der CSSR sei mit Nowitschok experimentiert worden. Was nicht ungewöhnlich wäre, denn dort war ein Kompetenzzentrum des Warschauer Paktes, das die NATO gern übernommen hat. Alles Lüge, sagt nun der Prager Senatsausschuss für Auswärtiges, Verteidigung und Sicherheit. Zeman habe »unwahre Informationen« veröffentlicht. Und dennoch – so behauptet – die Sicherheitsinteressen der Tschechischen Republik bedroht? Seltsam!
Die Bundesregierung sollte so eilig wie gründlich öffentlich Antworten geben. Aber vermutlich wird sie sich darauf berufen, dass der Ursprung des Übels schon über 20 Jahre zurückliegt. Und dummerweise haben die Beteiligten nichts schriftlich fixiert. Viele fallen zudem – ob ihres Todes – als Zeugen aus.
Wird die Justiz handeln? Kaum. Wohl werden Staatsanwälte nach einem Anfangsverdacht für eine Straftat suchen. Doch keinen finden. Zur Not helfen Verjährungsfristen.
Und was tut das Parlament? Manche Abgeordnete regen sich auf, weil das zuständige Geheimdienstgremium (PKGr) wieder einmal alles aus den Medien erfahren musste. Von »bewusster Umgehung« spricht PKGrMitglied André Hahn von den LINKEN. Die neuen Fakten haben Brisanz, sagt er, denn nun kommt für den zu verurteilenden Anschlag in Großbritannien nicht mehr nur Russland infrage. Denkbar sei ebenso, dass »Kräfte am Werk waren, die eine Wiederannäherung in den europäisch-russischen Beziehungen sabotieren wollen«. Hahn verspricht: »Die Nowitschok-Aktion ist noch nicht beendet, sondern wird das Kontrollgremium definitiv weiter beschäftigen.« Möglich ist das, doch alles, was im PKGr besprochen wird, ist geheim. Wer petzt, bekommt Ärger.