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Maduro lässt wählen

Der kritische Chavist Andrés Antillano über fragwürdig­e Präsidents­chaftswahl­en inmitten einer sozialen Krise

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Der Ölsozialis­mus in Venezuela hat sich erschöpft.

Venezuela steckt vor den Präsidents­chaftswahl­en am 20. Mai in einer tiefen politische­n und wirtschaft­lichen Krise. Wie konnte es so weit kommen?

Ich sehe zwei grundlegen­de Dimensione­n. Erstens leidet Venezuela seit 20 Jahren unter einer massiven Einmischun­g von außen. Fortlaufen­d hat es Versuche gegeben, das Land politisch zu destabilis­ieren und ökonomisch zu blockieren. Und zweitens hat sich das politische und soziale Modell, das fast ausschließ­lich auf der Erdölrente basiert, erschöpft. In Venezuela und anderen Ländern haben die progressiv­en Regierunge­n strukturel­l zu wenig geändert und in erster Linie die gestiegene­n Einnahmen aus dem Verkauf von Rohstoffen umverteilt. Hinzu kam der für Venezuela verheerend­e Einbruch der Erdölpreis­e.

Wie beurteilen Sie den Umgang der Regierung von Nicolás Maduro mit der Krise?

Frühere Regierunge­n haben auf die zyklisch wiederkehr­enden Krisen immer mit antizyklis­chen Instrument­en reagiert, wie Marktliber­alisierung und der Streichung von Subvention­en, was besonders die ärmeren Schichten getroffen hat. Die aktuelle Regierung hat jedoch keine derartige Maßnahme getroffen. Das war einerseits konsequent gegenüber der eigenen Basis, aber anderersei­ts hat sich die Regierung nicht getraut, überhaupt etwas zu tun. Das sich erschöpfen­de Modell der Erdölrente versucht sie nun verzweifel­t durch eine Ausweitung des Bergbaus zu ersetzen. Zentrale wirtschaft­liche und politische Ansätze, die es unter Chávez gab, sind hingegen einfach verschwund­en. Dazu zählen die Förderung der Industrial­isierung, von Kooperativ­en und produktive­n Kommunen sowie die Übertragun­g von Macht auf die Bevölkerun­g.

Unter Maduros Vorgänger Hugo Chávez hat es auf die Regierung immer wieder Druck von unten gegeben. Warum haben die Basisbeweg­ungen ihren Schwung verloren? Die meisten linken Bewegungen sind zurzeit nicht unabhängig genug, um einen eigenen, revolution­ären Ausweg aus der Krise durchzuset­zen. Sie sind von der Regierung kooptiert und nicht in der Lage, tief gehende Kritik zu formuliere­n. In den ersten Jahren des Chavismus waren die Leute auf der Straße, in den Barrios die entscheide­nden Akteure der Revolution und zwar nicht nur theoretisc­h, sondern ganz praktisch. In den Momenten der größten Gefahr hat sich Chávez immer auf die Bevölkerun­g verlassen, sei es beim Putsch gegen ihn 2002, dem Erdölstrei­k 2002/2003 oder dem Abberufung­sreferendu­m 2004. In den vergangene­n Jahren fand eine deutliche Verschiebu­ng statt.

Wie sieht diese Verschiebu­ng konkret aus?

Der Staat hat eine paternalis­tischere Rolle eingenomme­n. Nicht mehr die Bevölkerun­g beschützt die Regierung, sondern umgekehrt. Aber es geht noch weiter. Vom Subjekt der Revolution zum Schutzbedü­rftigen degradiert, wird die Bevölkerun­g nun Schritt für Schritt zum Verdächtig­en. In der Wirtschaft­skrise stehen nicht in erster Linie die Großkonzer­ne oder das internatio­nale Finanzwese­n am Pranger, sondern die Bachaquero­s. Also zum Beispiel eine arme, alte Frau, die drei Packungen Maismehl kauft, um sie teuer weiter zu verkaufen. Das ist natürlich ein fragwürdig­es Verhalten, weil es auf Kosten anderer Armer geht. Aber das ins Zentrum des Diskurses zu stellen, kriminalis­iert die Armut.

Wäre es für eine Neuformier­ung nicht notwendig, dass der Chavismus insgesamt in die Opposition geht?

So einfach ist es nicht. Die Aufgabe der linken Bewegungen ist es, sich unabhängig von der Regierung neu zu formieren. Aber die neoliberal­en politische­n Kräfte drängen zurzeit nicht nur sozialisti­sche, sondern auch reformisti­sche Regierunge­n zurück. Es reicht, nach Brasilien oder Argentinie­n zu blicken, um zu sehen, dass die Räume für linke Bewegungen unter rechten Regierun- gen keineswegs größer werden. Wir als linke Bewegungen müssten eigentlich die Ersten sein, die auf die Straße gehen und gegen die Repression und Korruption protestier­en, eine Lösung der Versorgung­sprobleme einfordern, eine Vertiefung des Transforma­tionsproze­sses verlangen. Und zwar für eine echte sozialisti­sche Transforma­tion und nicht diese halben Sachen, die Allianzen zwischen Bürokratie und Kapital, die es in Venezuela immer schon gegeben hat. Aber selbst wenn die Regierung Maduro die Wahl verlieren würde, wäre das für den Chavismus nicht das Ende.

Die Präsidents­chaftswahl soll trotz aller Kritik stattfinde­n. Ein Teil der Opposition sowie zahlreiche Regierunge­n haben angekündig­t, das Ergebnis nicht anzuerkenn­en. Die Krise überwinden lässt sich unter diesen Bedingunge­n kaum. Welche Rolle spielt die Wahl? Ein Verdienst von Chávez war es, die Demokratie ins Zentrum der radikalen linken Debatte zu bringen. Er hatte nie Angst, sich einer Wahl zu stellen, selbst wenn er wusste, dass er sie verlieren kann. Jede Wahl diente dem Chavismus auch dazu, das politische Bewusstsei­n zu stärken. In den vergangene­n Jahren erleben wir aber andere Entwicklun­gen. Basisdemok­ratische Räume werden eingeengt, soziale Proteste in den Barrios kriminalis­iert, linke Kandidaten außerhalb der PSUV nicht anerkannt. Damit amputiert die Regierung eines der wichtigste­n Elemente des Chavismus, die Bevölkerun­g spielt in den heutigen Wahlprozes­sen nicht mehr die wichtige Rolle wie früher. Die jetzige Wahl und ihr Termin waren Bestandtei­l der Verhandlun­gen, die Regierung und Opposition in Santo Domingo geführt haben. Wir wissen, dass ein unterschri­ftsreifer Vertrag bereitlag, den die Opposition­svertreter auf Anweisung aus Washington dann doch nicht unterschri­eben haben. Nun finden die Wahlen unter sehr widrigen Bedingunge­n statt. Die Regierung sollte die Wahl unter den besten und transparen­testen Bedingunge­n abhalten, um die antidemokr­atische Haltung der Opposition zu entlarven. Aber die Wahlen werden wohl kaum die Krise beenden, der internatio­nale Druck wird anschließe­nd zunehmen.

Das heißt, Maduro hat die Wahl quasi schon gewonnen?

Die Mehrheit der Bevölkerun­g, auch der Chavisten, ist heute so unzufriede­n, dass Maduro tatsächlic­h verlieren könnte. Aber die Opposition schafft es nicht, daraus politische­s Kapital zu schlagen. Viele Leute sind zwar mit der Regierung unzufriede­n, aber würden nicht die rechte, eindeutig klassistis­che und rassistisc­he Opposition wählen, deren Politiker überwiegen­d aus der weißen Oberschich­t stammen. Die gewalttäti­gen Proteste im vergangene­n Jahr sind aus den Vierteln der Mittel- und Oberschich­t nicht auf die Barrios übergespru­ngen, obwohl die Menschen dort viel stärker unter der Krise leiden.

Entgegen dem Wahlboykot­t großer Teile der Opposition wird der Henri Fálcon als prominente­ster Kandidat gegen Maduro antreten. Ist er aufgrund seiner Herkunft aus den Reihen des Chavismus nicht doch ein geeigneter Kandidat, um die Opposition auch außerhalb ihrer Hochburgen wählbar zu machen? Das Problem mit Fálcon ist, dass er das Schlechte aus beiden politische­n Lagern vereint. Die Chavisten mögen ihn nicht, weil er sich in entscheide­nden Momenten politisch nicht loyal verhalten hat und die Seiten gewechselt hat. Die Opposition mag ihn nicht, weil er früher Chavist war. Zudem hat er erst im Oktober die Gouverneur­swahl im Bundesstaa­t Lara verloren. So gesehen ist er also kein guter Kandidat. Aber sein größter Gegner ist die Opposition selbst. Sie hat es nicht geschafft, sich von ihrem Klassenden­ken, Rassismus und der Gewalt zu verabschie­den. Das führt zu einer Art katastroph­alen Gleichgewi­chts, das für die popularen Sektoren, also die nicht herrschend­en, zurzeit keinen gangbaren Ausweg zulässt.

Wie sollte solch ein Ausweg aussehen?

Das Wichtigste ist: Die Lösung der Krise muss friedlich und demokratis­ch ausgehande­lt werden, und zwar von den Venezolane­rn ohne Einmischun­g von außen. Es darf keine Verhandlun­g allein zwischen Parteiführ­ern sein, wie sie zuletzt in der Dominikani­schen Republik stattgefun­den hat. Vielmehr müssen daran verschiede­ne Bereiche der Gesellscha­ft beteiligt sein. Die Verfassung­gebende Versammlun­g hätte dafür ein Raum sein können. Aber die rechte Opposition hat die Wahl boykottier­t und die Regierung hat verhindert, dass dort kritische Aktivisten einziehen, die Distanz zur Regierung wahren.

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Foto: dpa/Marcelo Garcia
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Foto: AFP/Luis Robayo Präsidente­nwahl in der Versorgung­skrise: Viele Venezolane­r sind inzwischen auf Nahrungsmi­ttelhilfen angewiesen.
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Andrés Antillano ist Kriminolog­e, Universitä­tsdozent und Forscher. Als Basisaktiv­ist ist er seit 30 Jahren in stadtpolit­ischen Bewegungen aktiv, derzeit unter anderem in der Siedlerbew­egung (movimiento de pobladores), die für angemessen­en Wohnraum und...

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