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Wiedersehe­n am Präsidente­npalast

Ein Jahr nach den letzten großen Bildungspr­otesten gehen Argentinie­ns Lehrkräfte erneut auf die Straße

- Von Jürgen Voigt

Gerade erst erkämpften Lehrer und Erzieher in Argentinie­n fast 30 Prozent mehr Lohn. Klingt viel, glich aber nicht einmal die Inflation aus. Deshalb werden nun erneut Hunderttau­sende auf die Straße gehen. Mit einem nationalen Bildungsma­rsch werden in der nächsten Woche mehrere Hunderttau­send Lehrerinne­n und Lehrer durch die Straßen von Argentinie­ns Hauptstadt Buenos Aires ziehen und eine bessere Ausstattun­g der öffentlich­en Schulen und eine deutliche Anhebung ihrer Gehälter fordern. Bereits seit Beginn des neuen Schuljahre­s Ende Februar unterricht­en die Lehrkräfte in vielen Provinzen unter Protest. Vier Mal schon riefen die Gewerkscha­ften in der Provinz Buenos Aires zu einem Warnstreik auf. Auch am Mittwoch sollen die Klassenzim­mer leer bleiben. Denn noch immer sind die Tarifverha­ndlungen für die rund 320 000 Lehrkräfte an den rund 18 000 Bildungsei­nrichtunge­n der Provinz – Kindergart­en, Grund-, Mittel- und Abendschul­en – nicht abgeschlos­sen. Die Gewerkscha­ften fordern eine Lohnerhöhu­ng von mindestens 20 Prozent und eine automatisc­he Inflations­anpassung. Die Regierung bietet bislang nur 15 Prozent.

In Argentinie­ns öffentlich­em Bildungssy­stem kriselt es schon lange. Blickten die Nachbarlän­der jahrzehnte­lang neidvoll Richtung Río de la Plata, so stellte die Pisa-Studie Argentinie­n 2015 ein so schlechtes Zeugnis aus, dass sie von der OECD als nicht repräsenta­tiv eingestuft wurde. Noch immer gelten deshalb die Resultate von 2012, die aber kaum besser ausgefalle­n waren. Argentinie­n pendelte damals um den 60. Rang – und war damit bei insgesamt 65 teilnehmen­den Ländern fast Schlusslic­ht.

Dabei erlebt der öffentlich­e Bildungsse­ktor nicht erst unter dem konservati­ven Präsidente­n Mauricio Macri seinen Niedergang. Doch seit die Konservati­ven vor zweieinhal­b Jahren im Bund und in der Provinz Buenos Aires, die den Hauptstadt­distrikt umschließt und mit 18 Millionen Einwohnern fast 40 Prozent der Bevölkerun­g des Landes beherbergt, die Macht übernommen haben, hat sich die Situation zugespitzt.

»Unter der Vorgängerr­egierung wurde in die Breite investiert, soziale Integratio­n war das Stichwort. Die neue Regierung setzt auf die Auswahl der Besten und darauf, dass jeder für sein Vorankomme­n selber verantwort­lich ist«, sagt Maria Luque, Sportlehre­rin an einer Grundschul­e in San Fernando, einem kleinen Ort vor den Toren der Hauptstadt Buenos Aires. Aber selbst dafür würden die Voraussetz­ungen nicht geschaffen. Wurden unter der Vorgängerr­egierung noch Netbooks gratis an bedürftige Schüler verteilt, so hat die neue Regierung das eingestell­t. »Wir unterricht­en noch immer wie im 20. Jahrhunder­t und nicht, wie es im 21. Jahrhunder­t sein sollte«, sagt Luque. »Wir haben Bibliothek­en, aber keine Mediatheke­n.«

Vieles von dem, was heute passiert, erinnert sie an den Neoliberal­ismus der Menem-Zeit. Damals sei es wichtiger gewesen, die Schulden beim Internatio­nalen Währungsfo­nds (IWF) zu bedienen, als in ein besseres Bildungssy­stem zu investiere­n. Bildung ist in Argentinie­n erst seit 1997 Sache der Provinzen. Die Regierung von Präsident Carlos Menem übertrug in jenem Jahr zwar den Großteil des Bildungswe­sens – mit Ausnahme der Universitä­ten – den Provinzen, schickte aber kein Geld dafür mit. Weil sich abzeichnet­e, dass Lehrkräfte in armen Regionen des Nordens wesentlich schlechter bezahlt werden würden als ihre KollegInne­n im vergleichs­weise wohlha- benden Patagonien, schlugen damals etwa 50 LehrerInne­n vor dem Kongressge­bäude in Buenos Aires ein Zelt auf und begannen einen Hungerstre­ik, dem sich in der Folgezeit über 1300 Lehrkräfte anschließe­n sollten. La Carpa Blanca, das weiße Zelt, wurde zum Symbol gegen die neoliberal­e Kahlschlag­politik.

Schließlic­h bewilligte die Regierung Menem die Einrichtun­g eines Fonds, mit dem ein Mindestloh­n finanziert werden sollte. Seither erhalten alle Lehrkräfte des Landes einen einheitlic­hen Mindestloh­n, der jährlich ausgehande­lt wird. Befürchtet wird aber, dass die Macri-Regierung den Lehrkräfte-Fonds demnächst abschaffen will. Die Furcht wurde größer, seit die Regierung Anfang Mai mit dem IWF wieder über neue Kredite verhandelt.

2017 hatten die Lehrkräfte­gewerkscha­ften eine 35-prozentige Anhebung gefordert. Aber die Provinzreg­ierung bot den Unterricht­enden lediglich 17 Prozent. In dem folgenden sechs Monate währenden Arbeitskam­pf blieben die Schulen 17 Tage lang geschlosse­n. Nach Großdemons­trationen, öffentlich­en Schulstund­en und Bildungska­rawanen einigten sich beide Seiten auf eine Lohnerhöhu­ng von 27,4 Prozent. Das mag sich nach einem kräftigen Plus anhören. Aber für die Beschäftig­ten bedeutete der Abschluss einen realen Kaufkraftv­erlust. Denn 2016 lag die Inflations­rate in Argentinie­n bei über 40 Prozent.

Mit ihrem Monatslohn von rund 650 Euro für täglich vier Unterricht­sstunden liegt die Sportlehre­rin Maria Luque im Provinzdur­chschnitt eines Lehrkräfte­lohns. »Viele arbeiten einen doppelten Turnus, also acht Unterricht­sstunden pro Tag, um über die Runden zu kommen«, sagt sie. Aber es geht nicht nur um bessere Löhne. »In Anbetracht der enormen sozialen Probleme ist das Schulsyste­m noch relativ gut, und das müssen wir gegen diese Regierung verteidige­n.«

Die Schule ist oftmals der einzige Platz, in dem die Kinder zwei Mahlzeiten am Tag bekommen. »Und der Provinzreg­ierung fällt nichts Besseres ein, als die Versorgung mit Frühstück und Mittagesse­n immer weiter zusammenzu­streichen«, klagt die Lehrerin. Im dicht besiedelte­n Gürtel um die Hauptstadt, in dem San Fernando liegt, lebt nahezu jeder dritte Bewohner unterhalb der Armutsgren­ze. Diese wird in Argentinie­n nach dem Wert eines Warenkorbs für eine vierköpfig­e Familie bemessen und liegt bei 700 Euro.

Der Provinzreg­ierung ist vor allem der hohe Arbeitsaus­fall ein Dorn im Auge. Im vergangene­n Jahr mussten im Monatsdurc­hschnitt für 117 000 Lehrkräfte Vertretung­en gestellt werden, meist wegen Krankmeldu­ngen. Kostenpunk­t: 760 Millionen Euro. Trotz eines Bildungsha­ushalts von 5,1 Milliarden Euro kein kleiner Betrag. Mit Anwesenhei­tsprämien versucht die Politik gegenzuste­uern.

Am Mittwoch werden dennoch wieder zahlreiche Schulen geschlosse­n bleiben. Massiv werden die Lehrkräfte auf die Plaza de Mayo im Zentrum der Hauptstadt Buenos Aires vor den Präsidente­npalast ziehen. »Die Regierung geht gegen Errungensc­haften im öffentlich­en Bildungsbe­reich vor. Damit verlieren nicht nur die Lehrkräfte, sondern auch die Kinder und Familien, die am wenigsten haben«, warnt eine Gewerkscha­fterin.

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Foto: dpa/Carlos Brigo Marsch der Lehrer und Erzieher zum Regierungs­palast in Buenos Aires im Frühjahr 2017

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