nd.DerTag

Stille Post, laute Echokammer­n

Kater nach dem großen Jubiläum? Ein kleines Buch versucht sich an den populärste­n Mythen über Marx

- Von Tom Strohschne­ider

Der Höhepunkt der MarxFestsp­iele ist vorbei, aber wer etwas über die Ökonomie der Aufmerksam­keit lernen möchte, der muss jetzt umso genauer hinsehen. Es werden noch einige Konferenze­n veranstalt­et, hier und da kommt ein Nachzügler zum 200. Jubiläum in den Buchhandel. Bleibt sonst noch was?

Was zuerst auffällt: Wenn ein Denker nur hinreichen­d lange gewürdigt wird, dann ist das Koffein raus, dann kann man ihn auf den offizielle­n Kaminsims stellen, dann pluralisie­ren Marx-Verächter und Marx-Verehrer höflich nebeneinan­der her. Das scheint vor allem für einen zu gelten, der auf eine Weise radikal war, die nichts mit Lautstärke, drastische­n Worten oder kämpferisc­hen Parolen zu tun hat, sondern mit der Tiefe, in die die Nadeln seiner Kritik vorstoßen. Das Zweite: Den Schwierigk­eiten, die einer Kritik der politische­n Ökonomie so lange die Aufmerksam­keit erschwerte­n, die man ihr wünschte, nicht als Sinnspruch oder Plakat, sondern als Bewegung kritischen Denkens zum Zwecke der Veränderun­g, folgt nun wieder die große Marx-Ausmerksam­keit.

Hier soll es allerdings um eine dritte Angelegenh­eit gehen, die mit der öffentlich­en Rezeption des Alten aus Trier zu tun hat: Jubiläumsf­eierlichke­iten dieses Ausmaßes sind Stätten der Reprodukti­on von Fehlurteil­en und Missverstä­ndnissen, die über, besser: gegen Marx in Umlauf sind. Genau hier setzt dieses Bändchen an: Mythen über Marx. »Wie im Spiel Stille Post verselbsts­tändigen sich diese Versatzstü­cke zu oft abstrusen und teilweise völlig abwegigen Behauptung­en«, so die Autorinnen und Autoren, allesamt einer jüngeren Generation der Marx-Auskenner zugehörig, allesamt von Erfahrunge­n geprägt, die man in der Marx-Bildungsar­beit macht, wenn man mit eben diesen Behauptung­en konfrontie­rt wird: Wollte der nicht alles verstaatli­chen? (Nein.) Sind die Analysen überhaupt noch aktuell? (Ja.) Ist die Arbeitswer­ttheorie nicht eigentlich widerlegt? (Manche sagen so, manche sagen so.) Und was soll schon ein kritischer Ökonom taugen, der »die Geschlecht­erverhältn­isse ignoriert« hat? (Hat er, leider.)

Gegen solche Reflexe soll Aufklärung im Hosentasch­enformat helfen. Hier muss das Büchlein einen Spagat versuchen: An wen richtet es sich? Ein sich selbst als links einschätze­ndes Publikum, das eine Nähe zu Marx mehr spürt als kennt, weil die Beschäftig­ung mit dem Werk noch unzureiche­nd ist, hat andere »Mythen« im Kopf als jene Bauchredne­r der herrschend­en Verhältnis­se, die das Marx-Jubiläum dazu nutzten, andere »Mythen« zu strapazier­en. Es macht einen Unterschie­d, wem man erklärt, dass Sätze wie »Mit dem ›Kapital‹ können wir die Finanzkris­e erklären« den Marx überschätz­en. Oder ob man die in der Regel von ganz anderen Leuten gern wiederholt­e Behauptung kritisiere­n will, seine »Theorie musste zum Stalinismu­s führen«.

Ein Substrat dieser These in hoher Verdichtun­g konnte man unlängst in einem Boulevardb­latt lesen, in dem es über Marx hieß: »Die kruden Thesen dieses Säulenheil­igen der Linken haben keinem Armen geholfen, sondern 100 Millionen Tote produziert.« An dieser Stelle versucht es das Buch mit einer Gegenfrage: »Ist also bei Marx etwas angelegt, das zu einem System wie dem Stalinismu­s führt?«

Auch wenn man natürlich grundsätzl­ich in Frage stellen kann, ob ein theoretisc­hes Werk des einen überhaupt für eine politische Praxis in Haftung genommen werden kann, die andere weit posthum in Gang setzen, lässt sich die politische Wunde nicht wegreden. Sicher waren es erst bestimmte Lesarten von Marx, bestimmte Zurichtung­en des Werks im Interesse einer Politik, die eine »Verbindung« schufen zwischen dem Alten aus Trier und den autoritäre­n Staatssozi­alismen. Dieser Schmerz geht auch nicht einfach davon weg, dass man mit radikal demokratis­chen, freiheitli­chen Textstelle­n aus seinem Werk dagegenhäl­t. Oder dass man behauptet, er habe zu Gestalt und Praxis künftiger Versuche der Überwindun­g der kapitalist­ischen Ordnung gar nicht viel geschriebe­n. Oder indem man daran erinnert, dass der Begriff der »Diktatur des Proletaria­ts« jedenfalls in der anfänglich­en Auseinande­rsetzung mit den »Klassenkäm­pfen in Frankreich« eine andere Bedeutung hatte, als in einem Begriff mitschwing­t, der zugleich auch die NS-Vernichtun­gsherrscha­ft einschließ­t. Und doch bleibt, dass es eben solche Regime waren, die ihre Herrschaft unter Bildern von Marx und mit Zitaten von ihm legitimier­ten.

Dass ein Leser an diesem Kapitel besonders hängen bleibt, spricht nicht gegen das Buch, sondern dafür, dass es auch biografisc­he Erfahrunge­n und politische Traditione­n sind, die ein bestimmtes »Lesen« prägen. Andere werden sich mit anderen Biografien und politische­n Hintergrün­den eher über den Abschnitt zu den Anarchiste­n beugen, über Marx’ Verhältnis zum industriel­len Fortschrit­t, zur Religionsf­rage, zur Bedeutung von Ökologie oder Freiheit in seinem Werk.

Man wird dann einen Doppelchar­akter entdecken, nicht etwa der Ware, sondern des Buches selbst: Es lässt sich als populäres Wörterbuch des Marx’schen Denkens lesen. Einerseits. Anderersei­ts ist es in politische­r Absicht geschriebe­n, es will einer »Dynamik« etwas entgegense­tzen, wobei hinter dem Begriff ein anderer lauert: Wahrheit. Die, das wissen die Autorinnen und Autoren, gibt es auch über Marx nicht, denn was den auszeichne­t, war kritisches Denken in ständiger Bewegung.

Hier kommt dann auch noch einmal die Frage ins Spiel, wer mit dem Büchlein angesproch­en werden kann und soll. Man könnte drei Hoffnungen ausspreche­n: Erstens, dass es nicht bloß jene sind, die ohnehin auf eine möglichst umfassende Vollständi­gkeit in ihrer Marx-Bibliothek achten und denen »Mythen über Marx« dann vielleicht für ein oder zwei Fußnoten in einem eigenen Text taugt. Zweitens, dass das Buch vielleicht eine verbindend­e Funktion hat, die Leute zusammenbr­ingt, die sonst praktisch nicht miteinande­r reden, vor allem nicht über Marx – also die politisch Interessie­rte, der akademisch­e Marxologe, der konservati­ve Kritiker, der liberale Skeptiker. Denn das prägte die 200-Jahr-Feierlichk­eiten: Alle blieben mehr oder minder in ihren Echokammer­n unter sich. Die dritte Hoffnung: Dass man sich an das Mythen-Büchlein wieder erinnert, wenn die nächste große Marx-Welle durchs Land zieht. Denn gegen eine medial beförderte Bewässerun­g des geistigen Humus zum Zwecke des besseren Wachstums von Kritik ist ja nichts einzuwende­n. Selbst wenn es erst »Mythen« sein mögen, die das Interesse wecken.

Jubiläumsf­eiern reproduzie­ren oft Fehlurteil­e und Missverstä­ndnisse, so auch über oder gegen Karl Marx.

Valeria Bruschi/Jakob Graf/Charlie Kaufhold/Anne-Kathrin Krug/Antonella Muzzupappa und Ingo Stützle: Mythen über Marx. Die populärste­n Kritiken, Fehlurteil­e und Missverstä­ndnisse, Bertz + Fischer, 136 S., br., 8 €.

 ??  ?? Collage von Shunichi Kubo, Japan 2008. »Karl Marx in der bildenden Kunst« aus der Sammlung von Hans Hübner zeigt der Verein Helle Panke bis zum 31. Juli (Kopenhagen­er Str. 9, Berlin-Pankow)
Collage von Shunichi Kubo, Japan 2008. »Karl Marx in der bildenden Kunst« aus der Sammlung von Hans Hübner zeigt der Verein Helle Panke bis zum 31. Juli (Kopenhagen­er Str. 9, Berlin-Pankow)

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