Marxens Philosophie
Dieses Buch ist ein Versuch, die Theorie von Marx zu verstehen. Auch nach mehr als anderthalb Jahrhunderten der Rezeption und Interpretation, in denen viele Regalmeter Sekundärliteratur produziert wurden, sind wir von einem adäquaten Verständnis dieser Theorie noch weit entfernt. Vor allem dort, wo es um ihre philosophischen Grundlagen geht. Philosophische Grundlagen? Hat sich Marx mit seinem berühmten Diktum, die Philosophen hätten die Welt nur verschieden interpretiert, während es doch darauf ankomme, sie zu verändern, nicht von aller Philosophie verabschiedet?
Wir tun gut daran, solche Äußerungen zwar ernst, aber nicht für bare Münze zu nehmen. Schon allein deswegen nicht, weil Philosophiekritik immer selbst Philosophie ist. Vor allem aber, weil Marx sich programmatisch auf den Boden des Materialismus gestellt hat: auf den Boden einer genuin philosophischen Tradition des Denkens, die man aufgrund ihres Anspruchs, die ultimativen Bausteine der Wirklichkeit identifiziert zu haben, als metaphysisch klassifizieren kann. Wirklich frei gemacht hat er sich von der Philosophie also nicht. Philosophische Voraussetzungen prägen sein gesamtes Werk und lassen sich bis in seine ökonomischen Schriften hinein verfolgen. Auch seine politischen Ziele und seine Konzeption politischen Handelns bleiben ohne sie unverständlich.
Marx scheint die philosophischen Voraussetzungen seiner Theorie vor seinen Lesern, und wohl auch vor sich selbst, verborgen zu haben. Damit hat er es seinen Anhängern wie seinen Gegnern leicht gemacht, seine Theorie auf einige markige Formeln zu reduzieren. Wem solche Formeln nicht genügen, muss sich auf eine sorgfältige Lektüre seiner Schriften einlassen und muss ihren unausgesprochenen Vorannahmen nachspüren. Auf ein hermeneutisches Abenteuer dieser Art mochten sich in der Vergangenheit nur wenige Interpreten einlassen. Denn die Marx’sche Theorie war von Beginn an mit einem revolutionären politischen Programm verknüpft, das die Rezipienten vor die Alternative stellte, dafür oder dagegen zu sein. Den Interpreten blieb unter diesen Bedingungen meist nur die Aufgabe, entweder die Wahrheit oder die Falschheit der Theorie zu beweisen; was sie genau besagte, wurde zu einer Nebenfrage. In diesem Buch soll sie zur Hauptfrage werden.
Kurt Bayeritz, Seniorprofessor für Religion und Politik an der Westfälischen Universität Münster, in seinem Buch »Interpretieren, um zu verändern. Karl Marx und seine Philosophie« (C. H. Beck, 72 S., geb., 19,99 €).