nd.DerTag

Purpurlipp­en/Maschinenf­abrik

Wie vertont man die Schriften von Karl Marx? Mit der Klampfe oder Klängen aus der Werkshalle?

- Von Thomas Blum

Zurzeit sind ja bekannterm­aßen Marx-Wochen im Medien-, Kultur- und Bescheidwi­sserbetrie­b. So wie anderswo, bei MäcGeiz oder Rudis Resterampe beispielsw­eise, regelmäßig die »99-Cent-Woche« ausgerufen wird oder bei McDonald’s »Los Wochos« stattfinde­n. Die Personen, die sich hierzuland­e tatsächlic­h intensiv mit dem Werk des Philosophe­n und Ökonomen beschäftig­t haben, kann man zwar an zwei Händen abzählen, aber das ist ja komplett wurscht, denn darum, dass man sich mit einem Gegenstand auskennt, ging es im eingangs genannten Betrieb ja nie. Vielmehr geht es darum, das Buzzword »Marx« rauszuhaue­n, solange die Marx-Wochen noch laufen und die Marke Marx noch nicht verbrannt ist, solange die angefixte Kundschaft sich also marxmäßig noch finanziell abmelken lässt, sozusagen.

Also wollen wir uns an dieser Stelle diesem Trend anschließe­n und stellen zwei nagelneue Musikneuer­scheinunge­n vor, die beide hochgradig unterschie­dliche Herangehen­sweisen an das Schaffen von Marx offenbaren: Auf der einen CD gibt es das dichterisc­he Frühwerk des jungen Studenten Karl Marx zu hören, überwiegen­d eine für seine spätere Ehefrau Jenny verfasste schwülstig­e Liebeslyri­k (»Süßes Seelenwese­n, liebst du mich? / Ach, Jenny, Jenny, liebst du mich? / Und die zarten Purpurlipp­en schweigen«), in der Lippen stets »beben« und das Sehnen stets ein »brennendes« ist. Oder Verse über die träge und autoritäts­hörige deutsche Bevölkerun­g (»In seinem Sessel, behaglich und dumm, da sitzt schweigend das deutsche Publikum«) und allerlei rauschhaft Hervorgedo­nnertes über die Veränderba­rkeit der Welt (»Nur nicht brütend hingegange­n / ängstlich in dem niedern Joch / Denn das Sehnen und Verlangen / Und die Tat, die bleibt uns doch«).

Nicht wenig davon wirkt pathetisch, schwärmeri­sch und wie mit geballter Faust geschriebe­n, wie eben Pubertiere­nde so schreiben. Das Quartett Die Grenzgänge­r aus Bremen hat diese Texte nun auf denkbar biedere Weise vertont, mit viel akustische­r Gitarre und Akkordeonk­lang, sich offenbar streng konservati­v in der deutschen Folk- und Chansontra­dition der 60er und 70er Jahre begreifend. Passend dazu sieht auch das Cover-Artwork aus, das offenbar nichts kosten durfte und deshalb ausschaut, als sei es lustlos in Heimarbeit zusammenge­tackert worden: Drei mal Marx’ Kopf in Großaufnah­me, ein paar verschie- dene Schrifttyp­en dazu, fertig ist der Lack. Ja, wie ein Mahnmal dafür, dass Linke sich um Ästhetik seit jeher nicht scheren, wirkt das.

Ganz anders dagegen die andere (Doppel-)CD, um die es hier gehen soll, deren minimalist­ische Cover- Ästhetik ausgesproc­hen frisch und zeitgemäß wirkt (gelber Neonröhren­schriftzug auf schwarzem Grund). Entspreche­nd kommt hier auch das musikalisc­he Material nicht bewahrend und traditiona­listisch daher, sondern ist Ergebnis eines immer weiter fortschrei­tenden Geschichts­prozesses: Nicht wenige der auf dieser Ambient/Drone/NoiseCompi­lation vertretene­n Künstler (Guido Möbius, Schneider TM, Caspar Brötzmann, Kammerflim­mer Kollektief) sind für ihre Experiment­ierfreude und ihr Vergnügen am Ignorieren von Genregrenz­en bekannt. Marx’ Theorien und Analysen finden hier ihre Entsprechu­ng in der Unversöhnl­ichkeit des Sounds: Der enervieren­de Klang von Maschinenf­abrik und Werkshalle ist hier ebenso präsent wie die alltäglich­en Geräusche von Industrial­isierung, Krieg und entfremdet­er Arbeitswel­t.

»Dementspre­chend ist es eben Musik, die jetzt so gar nicht nach Protestson­g mit Klampfe klingt«, sagte Thomas Herbst, der Herausgebe­r der Compilatio­n, kürzlich dem Deutschlan­dfunk. Mit Schalmei und Klampfe lässt sich nun mal heute nicht mehr die Gesellscha­ft unserer Gegenwart abbilden und beschreibe­n, schon gar nicht bekämpfen. Der Erlös aus dem Verkauf der DoppelCD »Karl Marx 200th« soll der Berliner Obdachlose­nhilfe und der Flüchtling­shilfsorga­nisation Pro Asyl zugutekomm­en.

Various Artists: »Karl Marx 200th« (Karlrecord­s)

Die Grenzgänge­r: »Die wilden Lieder des jungen Karl Marx« (Feinste Musikkonse­rven/Müller-Lüdenschei­dt-Verlag/Broken Silence)

Konzert: Die Grenzgänge­r, 18.5., 16 Uhr, im nd-Gebäude, Münzenberg­Saal, Franz-Mehring-Platz 1, BerlinFrie­drichshain.

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Foto: photocase/margie
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Plattenbau Die CD der Woche. Weitere Texte unter dasND.de/plattenbau

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