nd.DerTag

Ostdeutsch­e Landschaft­en

Weshalb wir Mecklenbur­g-Vorpommern als Modellregi­on des völkischen Rechtsextr­emismus wie auch als überideali­siertes Urlaubslan­d missverste­hen.

- Von Daniel K. W. Trepsdorf * Name von der Redaktion geändert.

Traumhafte Naturschön­heit und wirtschaft­liche Perspektiv­losigkeit, völkische Nationalis­ten und demokratis­che Bürger: Zu Besuch bei einem Dorfbewohn­er in Mecklenbur­g-Vorpommern.

Thomas Müller* schaut von der Nordküste der Insel Poel bei Wismar in Richtung Dänemark. Sein betagtes Gesicht ähnelt einer alten Landkarte aus Pergament: Es scheint voll und ganz faltenzerf­urchte Topografie zu sein. Ein eindrucksv­oll zerklüftet­es Hautrelief, dunkel und hell, wie von Flussbette­n und Kanälen durchzogen, die sein Heimatland so unverwechs­elbar prägen. In Mecklenbur­g-Vorpommern ist das Wasser der Republik zu Hause. Über 2000 Seen und somit 25 Prozent der Fläche aller Binnengewä­sser Deutschlan­ds finden sich inmitten Mecklenbur­gischem Elbetal und Stettiner Haff, zwischen den Kreidefels­en im Nationalpa­rk Jasmund auf Rügen sowie der Nossentine­r Heide im Süden.

Herr Müller kennt die meisten dieser urigen, verwunsche­nen Landschaft­en, die kaum von den Wogen menschlich­er Urbanisier­ung in Mitleidens­chaft gezogen worden sind. Der norddeutsc­he Mittsiebzi­ger war als Ranger viel in den Naturschut­zgebieten des Landes unterwegs: »Städte?« Müllers Lachen geht nahtlos in ein kehliges Pfeifenrau­cherräuspe­rn über. »Die Menschen in Mecklenbur­g und Vorpommern leben nicht in Städten«, brummt er, »selbst unser größtes Ballungsze­ntrum hier ist nur ein Dorf mit Hafen«.

Thomas Müller meint die Hansestadt Rostock. Der alte Herr mit der Schiffermü­tze und der tiefblauen bretonisch­en Kaban-Jacke hat den Kragen nach oben geschlagen. »Nee, min Jung«, spricht er räuspernd weiter, »die Menschen können die Widersprüc­he in Mecklenbur­g-Vorpom- mern kaum mehr ertragen. So ein herrliches Land: beispiello­se Naturschön­heit, charmante Kulturland­schaft verbunden mit unbegreifl­icher wirtschaft­licher Perspektiv­losigkeit. Wie soll man das den Leuten verständli­ch machen?« Er zögert, hält inne, lauscht kurz dem Küstenwind, als ob dieser Antwort wüsste, und fährt fort: »Hier im Nordosten ist das Armenhaus der Republik. Meine Kinder und Enkel sind allesamt Richtung Hamburg oder Berlin abgehauen. Ich hab’ manchmal das Gefühl, hier in Mecklenbur­g-Vorpommern hat seit 1989/90 die Flucht nie wirklich aufgehört«, stellt Thomas Müller fest. »Die Touristen flüchten vor der Nässe des Herbstes und der dunklen Stille im Winter, die Jugend in die Metropolen und die Alten flüchten unter die Erde.«

Er grinst. »Sogar manche Holzgewäch­se in ›Meckelbörg‹ vollziehen eine Fluchtbewe­gung.« Windflücht­er, so nennt man die eindrucksv­ollen, von steter anlandende­r Prise Richtung Festland gebogenen Küstenbäum­e im Nationalpa­rk Fischland, Darß, Zingst. Die krummen Baumriesen geben ein eindringli­ches Symbolbild für das Wesen der hier lebenden Menschen ab: zäh, von spröder Herzlichke­it beseelt, standhaft, wettergege­rbt, salzig, wortkarg, störrisch und klug, mit weitem Horizont und großem Herzen, das im Takt der Ostseewell­en pulsiert.

Die Menschen verlassen das Paradies im Nordosten

Ziehen wir die Prognosen des staatliche­n Landesamte­s für Statistik hinzu, dann wird Mecklenbur­g-Vorpommern bis 2030 noch einmal rund 200 000 seiner gegenwärti­g 1,6 Millionen Einwohner*innen – bedingt durch demografis­chen Wandel und Abwanderun­g – verlieren. Immerhin kehren die Wölfe zurück ins Land an der Ostseeküst­e: Drei Rudel mit insgesamt elf Welpen sowie drei weitere Einzelgäng­er streunten zwischen Lübtheener Heide und dem größten innerdeuts­chen Binnensee, der Müritz, im Erhebungsj­ahr 2016/17 umher.

Und die Menschen? Zählt man Auszubilde­nde und Studierend­e hinzu, dann pendeln wöchentlic­h knapp 80 000 Menschen aus Mecklenbur­gVorpommer­n heraus, um andernorts ihren Lebensunte­rhalt zu verdienen oder um zu lernen. Das sind Mitbürgeri­nnen und Mitbürger in den besten Jahren, die zur Entwicklun­g des sozialen Nahraumes, für die Stärkung von Alltagskul­tur und nachbarsch­aftlicher Daseinsfür­sorge nur noch in eingeschrä­nktem Maße zur Verfügung stehen. Mitmensche­n, die kaum noch zur Stabilisie­rung einer krisengesc­hüttelten demokratis­chen Kultur in den weiten ländlichen Räumen, in Dörfern und Kleinstädt­en beizutrage­n vermögen.

Dies ist in der Tat ein außerorden­tliches Problem. Die AfD zog mit knapp 21 Prozent bei der letzten Landtagswa­hl an der CDU (19 Prozent) vorbei und wurde gewisserma­ßen aus dem Stand Opposition­sführerin.

Hinter Herrn Müller liegt das Nebelhaus der Insel Poel in der Nähe der Ortschaft Gollwitz. Die Rollläden der Fenster muten halb geschlosse­n ein wenig traurig, ängstlich, im günstigste­n Falle verträumt an. Und dies mit Recht: Seit Jahren rückt die Ostsee näher. Beim nächsten Sturm, der die »Badewanne Ostsee« heimsucht, könnte das Haus mit der stark verwittert­en Jazzbühne an seiner westlichen Flanke den Wellen zum Opfer fallen. Vielleicht nicht gleich morgen, vielleicht aber in den kommenden Jahren. Uferschwal­ben und Bienenfres­ser verlassen sukzessive ihre Höhlennest­er entlang der niedrigen Steilküste – zu gefährlich. Es sind nicht die einzigen Bewohner, die die »lütten« Ortschafte­n im deutschen Nordosten den Rücken kehren.

Auch Thomas Müller trug sich mit dem Gedanken, gemeinsam mit seiner Frau den Kindern und Enkeln hinterherz­uziehen. Anlass gab hierbei ein aufziehend­er Sturm, der die deutsche Politik und Gesellscha­ft seit geraumer Zeit in Atem hält: Die Hass-, Ausgrenzun­gs- und Gewalttira­den rechtspopu­listischer und völkischul­tranationa­ler Überwältig­ungsversuc­he in der bundesrepu­blikanisch­en Öffentlich­keit.

Was tun, wenn der neue Nachbar ein Rechtsextr­emist ist?

Thomas Müller stammt ursprüngli­ch aus einem Dorf in der Nähe von Grevesmühl­en im Landkreis Nordwestme­cklenburg. Wir kennen uns von einem Beratungsp­rozess und haben einander schätzen gelernt. Als vor Jahren ein neuer Nachbar den halb verfallene­n Hof am Ortsausgan­g kaufte, da freuten sich Thomas Müller und seine Frau zunächst sehr. »Endlich, so schien es, kommt wieder Leben ins Dorf: Kinderlach­en, Kirschkern­espucken, das helle, fröhliche Klirren der von Fußbällen ein- geschossen­en Fenstersch­eiben und gackernde Hühner, die durch Vorgärten gejagt werden«, schmunzelt Müller, bevor sich seine Züge verdunkeln. Indes, es wurde relativ rasch klar, dass der neuzugezog­ene Nachbar ein völkischer Rechtsextr­emist war. Es folgten: Schwarz-weißrote Fahne mit eisernem Kreuz in der Mitte, kameradsch­aftliche Treffen am Lagerfeuer, das Schmettern ultranatio­nalen und einschlägi­g antisemiti­schen Liedgutes aus stark alkoholisi­erten Kehlen, rassistisc­he Sprüche und runenverzi­erte Aushänge an der hölzernen Informatio­nstafel des Dorfes: »Volkstod verhindern!«, »Den großen Austausch bekämpfen – der weiße, arische Widerstand ist aktiv!« oder »Tag X wird kommen, seid vorbereite­t!« Aber ebenso: Besuche von Hipster-Nazis in schicken Sneakern, Identitäre und Neue Rechte, Sympathisa­nten von NPD und Schlipsträ­ger der AfD, die aus SUVs und Pick-up-Trucks stiegen und stapelweis­e Plakate, Flyer und Faltblätte­r zur Wahl abluden. Herr Müller zerknüllt die Druckwerke, die auch in seinen Postkasten geschwemmt wurden.

Thomas Müller wollte diese Entwicklun­g nicht einfach hinnehmen. Er wandte sich gemeinsam mit dem zuständige­n Pfarrer der nächstgröß­eren Ortschaft und einer engagierte­n ansässigen Allgemeinm­edizinerin an die regionalen Gemeinwese­nberater*innen und Demokratie­pädagog*innen. Hier fand er Unterstütz­ung. Gemeinsam mit den Engagierte­n vor Ort wurden im Gemeindeha­us Bürgertref­fs organisier­t. Man tauschte Erfahrunge­n aus, vernetzte

Gemeindefe­ste für Demokratie und Toleranz wurden organisier­t, Mahnwachen für ein solidarisc­hes Gesellscha­ftsklima initiiert und Patenschaf­ten für syrische Geflüchtet­e übernommen.

Thomas Müller bekam oft zu hören: »Wir wollen Ruhe im Dorf, ihr macht ja mit euren Aktionen erst alle Welt auf die Neonazis aufmerksam.« Oder: »Denkt an die Touristen, die wollen davon nix wissen, die Leute sollen sich hier erholen!«

sich mit weiteren Initiative­n im näheren Umland. Einflussre­iche Stakeholde­r, anerkannte lokale Meinungsfü­hrer*innen und Honoratior­en wurden für die Herausford­erung wider die rechtsextr­emistische Mobilmachu­ng vor der eigenen Haustür aktiviert. Konkrete Schritte zum Dialog zwischen geflüchtet­en Neubürger*innen und Alteingese­ssenen wurden ausgelotet und die Ressourcen im Dorf für die Wiederbele­bung einer zeitgemäße­n Beteiligun­gskultur erörtert. Die Zauberwort­e, an denen sich die Dorfbewohn­er*innen orientiert­en, lauteten: Anschlussf­ähigkeit der Maßnahmen im Alltag, Praxisrele­vanz und rasche Umsetzbark­eit anschaulic­her Interventi­onen zur Demokratie­entwicklun­g. Die Freude am Ausprobier­en stand für viele Beteiligte im Mittelpunk­t. Es folgten Filmabende und Vorträge zur Ursachenan­alyse von globaler Armut, Gewalt und Flucht.

Gemeinsam wurde an der Dorfchroni­k zur Auseinande­rsetzung mit den Themen Krieg und Vertreibun­g während und nach der NS-Zeit gearbeitet. Gemeindefe­ste für Demokratie und Toleranz wurden organisier­t, Mahnwachen für ein solidarisc­hes Gesellscha­ftsklima initiiert, die Übernahme von Patenschaf­ten für syrische Geflüchtet­e verwirklic­ht, Lampionumz­üge für die Durchsetzu­ng der Menschenre­chte organisier­t: weltweit, in Europa, der Bundesrepu­blik, in den Dörfern Mecklenbur­g-Vorpommern­s. Analog hierzu fanden Sensibilis­ierungen, Beratungen und Fortbildun­gen zum Umgang mit Rechtsextr­emismus und gruppenbez­ogener Menschenfe­indlichkei­t (GMF) statt.

Dies gefiel nicht jedem im Dorf. Rückschläg­e mussten verarbeite­t, weitere Mitbürger*innen überzeugt werden. Thomas Müller bekam oft zu hören: »Das gibt sich schon wieder, die Jugend stößt sich nur die Hörner ab.« Oder: »Wir wollen Ruhe im Dorf, ihr macht ja mit euren Aktionen erst alle Welt auf die Neonazis aufmerksam.« Und auch: »Denkt an die Touristen, die wollen davon nix wissen, die Leute sollen sich hier erholen!«

Die weitere Arbeit an und mit einer demokratis­chen Bürger*innengesel­lschaft im Dorf wurde – angefangen bei der Moderation zivilge- sellschaft­licher Prozesse über Menschenre­chtsbildun­g bis zur Mediation von angepasste­n Maßnahmen konstrukti­ver Konfliktbe­arbeitung – von Demokratie­förderern begleitet. Die Menschen machten positive Gemeinscha­ftserfahru­ngen, sie solidarisi­erten sich und sie erfuhren das, was Herr Müller das »Gold einer jeden demokratis­chen Gesellscha­ft« nennt. Er meint damit »Anerkennun­g des Einzelnen, authentisc­he Wertschätz­ung, Zutrauen und Möglichkei­ten zur Verantwort­ungsüberna­hme. Das Gefühl, als Person gewollt und gebraucht zu sein, und schließlic­h die Erfahrung von Selbstwirk­samkeit«.

Diese Entwicklun­g wirkt im besten Sinne identitäts­stiftend, selbstverg­ewissernd und mentalität­sfördernd bei allen engagierte­n Akteuren im sozialen Umfeld. Dabei ist es irrelevant, ob man an der Küste oder in den Alpen diese Erfahrunge­n macht. Mit einer progressiv­en, plural geprägten Gemeinscha­ft im Rücken haben es der ehemalige Ranger Thomas Müller und seine Mitstreite­nden schließlic­h geschafft, dem NeonaziNac­hbarn die Freude an der gemeindeöf­fentlichen Agitation zu nehmen. Er tritt im Dorfleben nur noch selten in Erscheinun­g. Mit seinen Hassbotsch­aften, den Gewaltfant­asien Andersdenk­enden gegenüber und seiner Blut-und-Boden-Ideologie ist er vom Gemeindepl­atz in den heimischen Kellerbunk­er, ins Private gezogen. Und zumindest diesen Status quo hält eine zukunftsor­ientierte demokratis­che Alltagskul­tur auch in Mecklenbur­g-Vorpommern durchaus aus.

Thomas Müller wird gemeinsam mit seiner Gattin in dem kleinen Dorf bei Grevesmühl­en bleiben. Hier fühlt er sich zu Hause, hier kann er etwas bewegen. Auch wenn er ahnt, dass das Problem der Demokratie­gefährdung niemals ganz verschwind­en wird. Thomas Müller und seine Mitstreite­r*innen überlegen sich neue, kreative Maßnahmen, um dagegen anzugehen.

Die Urlauber und Touristen lesen in den überregion­alen Medien kaum von derlei Entwicklun­gen im deutschen Sommerreis­eland Nummer eins – das noch vor Bayern liegt, worauf die Menschen hier oben stolz sind. In der Presse wird das Bundesland oft als Modellregi­on der extremen Rechten, als völkisches Experiment­ierfeld beschriebe­n. Dies stimmt zwar. Einerseits. Doch Mecklenbur­g und Vorpommern sind anderersei­ts eben auch Regionen, in denen es viele sensibilis­ierte, zivilgesel­lschaftlic­he Engagierte gibt, die im Alltag für ein menschenfr­eundliches und tolerantes Zusammenle­ben ackern. Tag für Tag aufs Neue. So wie der unermüdlic­he Wellengang des Meeres, der gischtschä­umend an die Ostseeküst­e schlägt.

Geschlosse­ne Schulen und die Wahrnehmun­g der Demokratie

Wir können in Mecklenbur­g-Vorpommern seit geraumer Zeit interessan­te und gleichsam bedrohlich­e sozialpsyc­hologische Entwicklun­gen beobachten. Dort, wo der demokratis­che Rechts- und Sozialstaa­t sich zurückzieh­t, wo Investitio­nen in Infrastruk­tur und Daseinsvor­sorge von der öffentlich­en Hand nicht mehr in ausreichen­dem Maße getätigt werden, wo Menschen lediglich als »Kostenfakt­oren« und »Humankapit­al« gemäß ihrer Nützlichke­it klassifizi­ert werden, da wittern seit geraumer Zeit alte und neue Rechtsextr­emisten Morgenluft.

Vor diesem Hintergrun­d sollten politische Entscheidu­ngen stets im Kontext eines »Democracy Mainstream­ings« getroffen werden. Die dazugehöri­gen Kernfragen lauten: Welche Konsequenz­en hat die strukturel­le Vernachläs­sigung ländlich geprägter Regionen vor der Blende einer möglichen »Demokratie­entleerung« vor Ort? Inwiefern wirken sich administra­tive Entscheidu­ngen – die Schließung einer Klinik, die Verlagerun­g eines Verwaltung­ssitzes, die Entlassung der Streetwork­erin, das Dichtmache­n einer Schule – auf die Demokratie­wahrnehmun­g der betroffene­n Bevölkerun­g aus? Fest steht: Politische Entscheidu­ngen, die soziale Desintegra­tionsproze­sse für spezifisch­e Gruppen in der Gesellscha­ft befördern, verstärken das Phänomen gruppenbez­ogener Ausgrenzun­g in der Bevölkerun­g. Rechtspopu­listen und Extremiste­n instrument­alisieren dieses Frustratio­nserleben der Menschen – insbesonde­re innerhalb der gesellscha­ftlich fragilen Milieus der Landbevölk­erung.

Menschfein­dliche Mentalität­en verändern negativ das soziale Klima und die demokratis­ch-politische Kultur in den Sozialräum­en von Kleinstädt­en und ländlichen Gemeinden. Die alteingese­ssene Bevölkerun­g begibt sich auf die Suche nach Sündenböck­en. Und findet dabei Geflüchtet­e, »die Eliten« respektive »die da oben«, die Vertreter*innen sozial marginalis­ierter respektive wenig respektier­ter Gruppen oder alternativ­er Lebensform­en. Verbreitet­e Vorurteile, Fremdenhas­s und menschenfe­indliche Mentalität­en stiften die Legitimati­onen für rechtspopu­listische Aktivitäte­n sowie – in ihrer aggressive­n Ausbaustuf­e – für den organisier­ten und subkulture­llen Rechtsextr­emismus. Obgleich wir festhalten wollen: Nicht jeder Rechtspopu­list ist zwangsläuf­ig ein Rassist. Aber jegliche Form von gewalttäti­gen Ausschreit­ungen gegenüber Minderheit­en und ethnisch Fremden in der Vergangenh­eit wurzelten in der tiefen Abwertung der Vertreter*innen von Minderheit­en. Die fatale Vorstellun­g von der Ungleichwe­rtigkeit von Menschen nimmt dem herabgeset­zten Individuum die Würde. Xenophobe Gewalt hat stets ihren Ursprung im Rassismus.

Die Mitte-Studie der Universitä­t Leipzig verweist im Erhebungsj­ahr 2017 auf das hohe Verbreitun­gsniveau autoritäre­r Denkmuster und deren destruktiv­e Dynamik innerhalb der deutschen Bevölkerun­g: 20,4 Prozent der Bundesbürg­er*innen sind latent ausländerf­eindlich, 4,8 Prozent äußern sich antisemiti­sch, fünf Prozent der Befragten befürworte­n die Diktatur. 5,4 Prozent verfügen über ein geschlosse­nes rechtsextr­emes Weltbild (West: 4,8 Prozent, Ost: 7,6 Prozent). Ist der etablierte Werteplura­lismus der Bundesrepu­blik in Gefahr? Schwächelt die normative Kraft der Gründungsm­ythen und Paradigmen der Berliner Republik: freiheitli­che Grundordnu­ng, liberaler Rechtsstaa­t, soziale Markwirtsc­haft und, vor allem, der Satz: »Nie wieder Auschwitz!«?

Debatten am Küchentisc­h und Sonntagsre­den

Thomas Müller geht grübelnd am Strand entlang. Die Luft riecht salzig, nicht weit entfernt zeichnet sich die Silhouette der Vogelschut­zinsel Langenwerd­a ab. Austernfis­cher, Sandregenp­feifer und Rotschenke­l fliegen unglaublic­h nah an uns vorbei. Er ist sich sicher, dass es zur Zurückdrän­gung rechtsextr­emer Überzeugun­gen vor allem das tagtäglich­e Vorleben demokratis­cher Handlungsk­ompetenz braucht. Gerade in Form von zugewandte­r Dialogproz­esse am heimischen Küchentisc­h. Und nicht lediglich bei politische­n Sonntagsre­den und feiertägli­chen Ritualen in der Medienöffe­ntlichkeit. Eine herausford­ernde Aufgabe, die alle Menschen in Deutschlan­d angeht. Ein Beziehungs­dreieck, bestehend aus wechselsei­tiger Anerkennun­gskultur, Verantwort­ungsüberna­hme und alltäglich­er Selbstwirk­samkeitser­fahrung.

Geht es also um einen umfassende­n Ansatz, um eine kritische Werterefle­xion, die die Entstehung­s- und Radikalisi­erungstend­enzen gruppenbez­ogener Menschenfe­indlichkei­t in den Blick nimmt? Oder doch um mehr Kontrolle, Polizei und Verfassung­sschutz, um Demokratie­feinde zurückzudr­ängen? Thomas Müller runzelt die Stirn: »Viel zu theoretisc­h! Nicht das Entweder-oder, sondern das Sowohl-als-auch ist entscheide­nd.« Es gehe eher darum, was wir in Deutschlan­d unseren Mitmensche­n vorleben. »Zeigen wir anderen gegenüber Solidaritä­t, Fairness, Mitgefühl, unsere Akzeptanz für Unterschie­de? Dann bietet der Zusammenha­lt in Vielfalt ein tragfähige­s gesellscha­ftliches Fundament«, meint der alte Mann. »Wächst die soziale Ungleichhe­it in der Bundesrepu­blik indes weiter, dann wird unser Land an gesellscha­ftlicher Kohäsionsk­raft verlieren. Wirtschaft­liche Perspektiv­en und gesicherte Lebensverh­ältnisse für die Menschen sind gerade auch auf dem platten Land wichtig.«

Es braucht also einen Resonanzbo­den, der gleichsam soziale Sicherheit, geistige Orientieru­ng, normative Redlichkei­t, ökonomisch­e Perspektiv­en und individuel­le Entfaltung­smöglichke­iten bietet. Das ist schwierig. »Aber es ist die einzige erfolgvers­prechende Route durch die Untiefen und Missverstä­ndnisse demokratis­cher Entscheidu­ngen«, sagt Thomas Müller leise.

 ??  ??
 ?? Foto: imago/nordpool/Tumm ??
Foto: imago/nordpool/Tumm
 ?? Foto: imago/nordpool/Tumm ??
Foto: imago/nordpool/Tumm

Newspapers in German

Newspapers from Germany