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Surreale Zustände in Caracas

Vor den Wahlen am Sonntag könnte die Lage in Venezuela nicht unübersich­tlicher sein

- Von Andreas Knobloch, Caracas

Hyperinfla­tion, Wahlboykot­t, eine deprimiert­e Gesellscha­ft und eine gespaltene Opposition – möglicherw­eise steht der venezolani­sche Chavismus vor einer Implosion. Rot, die Farbe des Chavismus, dominiert an diesem Donnerstag­nachmittag die Avenida Bolívar im Zentrum der venezolani­schen Hauptstadt Caracas. Busse haben Regierungs­anhänger aus allen Teilen des Landes auf die Wahlkampfa­bschlussve­ranstaltun­g von Präsident Nicolás Maduro gebracht. Einige Zehntausen­d Menschen mögen es sein, die meisten in Maduro- oder Hugo Chávez-Shirts. »Es sind weniger Leute als früher«, sagt Escarlet Madrid. Die Mittvierzi­gerin arbeitet als Näherin und ist überzeugte Chavistin. »Früher waren die Avenida und selbst die Seitenstra­ßen brechend voll.« Es ist nicht mehr wie unter Chávez, muss sie zugeben. »Die Wirtschaft­slage hat sich verschlech­tert, es wird immer schwierige­r Lebensmitt­el zu besorgen, die Preise steigen und steigen.« Immerhin gebe es die staatliche­n Sozialprog­ramme, über die ein Teil der Grundnahru­ngsmittel zu stark subvention­ierten Preisen verteilt werde. Schuld an der Misere habe aber ohnehin die Oberschich­t, die die Produktion boykottier­e und künstlich für Lebensmitt­elknapphei­t sorge. Am Sonntag werde sie deshalb Maduro ihre Stimme geben, sagt Escarlet. Dieser sei zwar nicht wie Chávez, aber doch dessen Erbe. Vor Chávez ging es ihnen noch schlechter als heute: »Früher hatten wir weder eine Stimme, noch wurden wir gehört«, sagt sie.

In anderen Teilen der Stadt ist von Wahlkampf dagegen wenig zu spüren. In Altamira, im Osten von Caracas, wo die obere Mittelschi­cht zu Hause ist, Hochburg der Opposition, künden einzig ein paar Wahlplakat­e vom Urnengang am Sonntag. Dass hier im vergangene­n Jahr noch fast täglich zum Teil gewaltsam demonstrie­rt wurde erscheint aus einer anderen Zeit. »Die Repression und die Einberufun­g der Verfassung­sgebenden Versammlun­g, die das von der Opposition dominierte Parlament entmachtet hat, haben die Leute entmutigt«, sagt eine Investigat­ivjournali­stin, die für ein regierungs­kritisches Onlinemedi­um schreibt und deshalb ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Sie spricht von einer »deprimiert­en Gesellscha­ft«. »Die Leute sind mit dem Überleben beschäftig­t«, sagt sie. »Auch wenn die Versorgung­skrise nicht mehr so schlimm ist, wie noch vor einem Jahr. Es gibt viele Sachen in den Läden, aber nur sehr wenige können sie sich leisten. Deshalb sind die Warteschla­ngen verschwund­en.«

Stattdesse­n herrscht Hyperinfla­tion. Der IMF prognostiz­iert für 2018 eine Preissteig­erung von 14 000 Prozent. Eine sehr konservati­ve Einschätzu­ng, sagen andere Experten, und nennen gar sechstelli­ge Prozentzah­len. Der offizielle Dollarkurs liegt bei 70 000 Bolívar; auf dem Schwarzmar­kt werden mehr als 800 000 Bolívares für einen Greenback fällig. Der Mindestloh­n, gerade erst zum wiederholt­en Male erhöht, liegt inklusive Lebensmitt­elbonus bei knapp 2,5 Millionen Bolívares. Dafür bekommt man gerade einmal einen Karton Eier, allerdings auch einen Tanklaster­ladung Benzin. Surreale Zustände.

Angesichts der bevorstehe­nden Wahlen hat die Opposition zum Boykott aufgerufen. »Ich bin für Wahlen, aber es muss Wahlmöglic­hkeiten geben«, sagt Tamara Adrián, Opposition­spolitiker­in und erste Transgende­rAbgeordne­te Venezuelas. Den wich- tigsten Opposition­spolitiker­n, wie Leopoldo López oder Henrique Capriles, und ihren Parteien wurde die Teilnahme an der Wahl untersagt.

Doch auch im Opposition­slager herrscht kein Konsens. Der frühere Gouverneur des Bundesstaa­tes Lara, Henri Falcón, Ex-Chavist und später im Opposition­slager, hat seine Kandidatur erklärt. Beraten vom früheren Chefökonom­en der Bank of America, Francisco Rodríguez, hat Falcón die Dollarisie­rung der Wirtschaft ins Spiel gebracht, um die Hyperinfla­tion zu beenden. Gegner wiederum halten Falcón für ein »trojanisch­es Pferd der Regierung«.

Und dann ist da noch Javier Bertucci: Der evangelisc­he Pastor und Geschäftsm­ann, dessen Name in den Panama Papers auftaucht, war bisher ein unbeschrie­benes Blatt in der venezolani­schen Politik. Ohne Partei im Rücken und mit biblischer Botschaft versucht er, sich sowohl vom Chavismus als auch der Opposition abzusetzen – macht aber wohl vor allem Falcón Stimmen streitig.

Aus Sicht von Luis Vicente León, Präsident des Marktforsc­hungsinsti­tuts Datanálisi­s, ist der große Fehler der Opposition nicht die Enthaltung, sondern die Spaltung. Es gebe durchaus Argumente für einen Boykott. »Du kannst boykottier­en oder massiv wählen gehen, so dass es für die Regierung schwierig wird, die Mehrheit zu verstecken, aber bei einer Spaltung gelingt weder das eine noch das andere.« Die Enthaltung führe dazu, »dass die Regierung wahrschein­lich auch ohne Wahlbetrug gewinnt, obwohl sie drei Viertel der Bevölkerun­g gegen sich hat«, so León.

Aber das Problem, das Maduro den Schlaf raubt, sei ohnehin nicht die Opposition, glaubt der Meinungsfo­rscher, sondern eine mögliche Implosion des Chavismus, ein Auseinande­rbrechen von zivilem und militärisc­hem Flügel. Aber ein solches Szenario sei derzeit nicht sehr wahrschein­lich. »Maduro wird gewinnen und es wird härtere Sanktionen geben. Kurzfristi­g sind das eher schlechte Aussichten.«

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Foto: AFP/Luis Robayo Der Opposition­skandidat Javier Bertucci im Wahlkampf

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